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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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bin eine brave Tochter. Eine sehr brave Tochter. In einem Anfall von Mittelstandswahn gehe ich ins Kilkenny Design und kaufe meiner Mutter ein wunderschönes Schultertuch aus beiger spinnwebfeiner Kaschmirwolle.
    Sie nimmt es aus der Tüte, und einen Moment lang ist sie ganz entzückt bei der Vorstellung, sie könnte ausschauen wie eine alte Dame im Fernsehen.
    Also das schenken sie dir, wenn deine Kinder sterben.
    Sie lässt zu, dass ich ihr das Tuch umlege, aber ihre gerundeten alten Schultern weisen es ebenso zurück wie ihre Kinnhaltung. Sie zieht es auf ihren Schoß hinab und sagt: »Das gäbe ein hübsches Tauftuch ab, nicht wahr? Bei Ciara ist was unterwegs.« Denn obwohl meine Mutter uns nie so richtig erkennt, wenn sie uns leibhaftig vor sich sieht, so zählt sie doch ihre Nachkommen und deren Nachkommen bis ins dritte Glied. Mit Freuden und mit Leichtigkeit geht sie ihre Namen durch.
    »Die Niederkunft ist im Februar, stimmt’s? Sehr kalt.«
    Alle Hegarty-Kinder sind getauft, denn die Taufe zu verweigern würde bedeuten, dieser Frau vorzuenthalten, was ihr von Rechts wegen zusteht, ihren kleinen Schatz an Seelen – wir alle zockeln pflichtgetreu zum Taufstein und übergeben unsere Kinder der Kirche. Mich stört’s eigentlich nicht, aber Jem hat, wie ich fand, übertrieben. Wer weiß, was die Hegartys wirklich glauben? In der Fastenzeit geht Mossie-der-Psychotiker täglich zur Messe, aber das wissen wir nur deswegen, weil er es uns sagt. Schließlich ist er Psychotiker. Wir anderen verrichten unsere Gebete allein.
    Ich nehme ihr das Schultertuch ab, falte es zusammen und lege es wieder in die Papiertüte. Dabei sage ich: »Würdest du einmal im Leben etwas für dich selbst annehmen, Mammy, nur einmal?« Und sie wirft mir einen spitzen Blick zu, wie um zu sagen: Was? Du willst, dass ich so bin wie du?
    Ich weiß nicht, was daran verkehrt sein soll, ich zu sein. Und ich weiß nicht, ob sie mich lieber hätte, wenn sie sich an meinen Namen erinnern könnte. Mammy stand es immer frei, sich auszusuchen, wen von uns sie liebte und wen nicht. Zuerst natürlich die Jungen, und nach den Jungen, wer immer von uns Mädchen brav war.
    Ich war nicht brav. Ich weiß nicht, warum. Nicht, dass ich je etwas Abwegiges getan hätte. Ich hab’s ihr nur nicht abgekauft, und Liam auch nicht. Wir haben’s ihr nicht abgekauft, dieses ganze Hegarty-Gerede von der armen Mammy .
    Die arme Mammy sitzt da und sieht sich die Nachmittagssendung an, wie sie es halt tut und wie sie es immer tun wird, vor und nach dem Tod irgendeines anderen Menschen. Es lässt sich unmöglich ausmachen, woran sie denkt. Wenn sie spricht, dann über Begebenheiten, die sich vor langer Zeit zugetragen haben, ehe irgendeiner von uns zur Welt kam: das Abenteuer mit dem Pferd des Milchmanns, der Tag, an dem sie in Broadstone den Wohnzimmerteppich in Brand steckte, ihre Mutter Ada, die, wenn gegen Ende des Monats das Geld knapper wurde, einen Eintopf kochte, der nur aus Gemüse bestand – »Dschungeleintopf« nannte sie ihn, die Karotten waren »Tigerfleisch« und die Pastinaken »Kamelkau«.
    Das Haus um uns herum ist leer und schäbig, ein Kaninchenbau aus Trennwänden, in dem die Geister der Kinder umherhuschen, die wir einstmals waren. Drei davon tot – inzwischen sind wir fast eine normale Familie. Noch zwei, dann haben wir genau die richtige Größe.
    Einmal hatte ich einen Typen im Haus, der Teppiche reinigte, der erzählte mir, er sei der Letzte von einundzwanzig. Alle kinderreichen Familien sind gleich. Manchmal treffe ich sie auf Partys oder in Pubs, wir machen uns bekannt, und dann trauern wir – Billy in Boston und Jimmy-Joe in Jo’burg, der gut verdient -, erst um die Toten, dann um die Verlorenen und schließlich um die Verrückten.
    Immer gibt es einen Trinker. Immer jemanden, der als Kind missbraucht wurde. Immer kolossalen Erfolg, mehrere Häuser in verschiedenen Ländern, in die nie jemand eingeladen wird. Es gibt eine mysteriöse Schwester. Natürlich sind das nur Trends, und wie alle Trends sind sie dem Wandel unterworfen. Denn in unseren Familien findet sich alles, und spätnachts ergibt alles einen Sinn. Wir bemitleiden unsere Mütter, was mussten sie nicht alles über sich ergehen lassen im Bett oder in der Küche, und wir hassen sie, oder wir vergöttern sie, aber immer weinen wir um sie – ich zumindest. Der unwägbare Schmerz meiner Mutter, gegen den ich mein Herz verhärtet habe. Nur ein Glas über das übliche Maß hinaus, und

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