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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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in den Falz seines Biologiebuchs, Liam hat Besuch im Durchgang zum Garten. Selbst nachts konnte ich erkennen, wer sich wo aufhielt: jedes Zimmer kalt und auf unterschiedliche Weise schal, während der ganze säuerliche Tag sich durch die schlafende Haut meiner Brüder entlud, der Geruch der Tabletten meiner Mutter in der Toilette oben, wenn sie dort pinkeln war.
    Sie erwachen. Sie kommen wieder nach Hause.
    Bea, Ernest, Ita, Mossie, Kitty, vielleicht Alice und ganz bestimmt die Zwillinge, Ivor und Jem.
    Sie werden über unsere Köpfe hinwegdonnern, in den riesigen Bäuchen von Flugzeugen. Ivor aus Berlin und Jem aus London, Ita aus Tucson, die mysteriöse Alice von Gott weiß woher. Vielleicht sogar, aus Lima über Amsterdam, Father Ernest in einem gestreiften Trachtenhut.
    Eine Bewirtung durch die Hegartys. Gott steh uns allen bei.
    Wir werden uns wieder wie Hegartys aufführen. Tapfer sein und anständig und herzlich, wir werden weinen und leiden. Wir werden keinen Quatsch machen, denn wir Hegartys machen keinen Quatsch; das Großartige daran, wenn man mehr schlecht als recht aufgezogen worden ist: Man kann niemandem die Schuld zuschieben. Wir sind frei. Menschen im Naturzustand. Einige überleben besser als andere, das ist alles.

29
    Der Leichnam ist immer noch nicht eingetroffen.
    Tom lässt die Immobilienbeilage auf dem Küchentisch liegen, baufällige Häuser in der Innenstadt sind mit Kringeln und Haken versehen. Er unterstreicht das Wort »renovierungsbedürftig«. Ich glaube, er meint mich. Außerdem glaube ich – danke, Tom -, dass das genau das Richtige ist, wenn einem der Schwager stirbt.
    Ich fahre in die Stadt, um Mammys Schultertuch umzutauschen, und wandere in den Straßen umher, und nach einer Weile finde ich mich weinend auf der Rolltreppe von Brown Thomas wieder, einem Kaufhaus. Und was mir Tränen entlockt, ist die Tatsache, dass es hier nichts gibt, was ich nicht kaufen kann. Ich kann Bettwäsche kaufen oder ein Bett. Ich kann den Mädchen piekfeine Jeans kaufen oder mir selbst eine Miu-Miu-Jacke, falls sie nicht zu kastenförmig ist. Ich kann die Brabantia-Gläser kaufen, die ich eben im dritten Geschoss anstarre, die ich vielleicht sogar für Pasta und Reis und Linsen und Kürbiskerne und alle möglichen Trockengüter gebrauchen könnte, besonders für die, die ich nie verwende oder koche und die auf meinem obersten Regalbrett leben. Ich versuche zu zählen. Soll ich eines für die Polenta kaufen, die seit fünf Jahren in ihrer Packung sitzt und auf den Tag harrt, da wir sämtliche Trockengüter benötigen, die wir auftreiben können? Was ist mit den Kichererbsen? Die Gläser sind um die Hälfte reduziert. Ich brauche neun, denke ich. Ich fange an, sie in meiner Armbeuge zu stapeln, und muss noch ein bisschen mehr weinen, da ich mir die Sintflut, die Pestilenz und die Atombombe ausmale, die uns ins Haus sperrt, wo wir fünf Jahre alte Polenta essen. Falls mich jemand fragt, kann ich ihm antworten, dass ich das Ende der Welt beweine. Und plötzlich möchte ich die neun Brabantia-Gläser in die Luft schleudern und ein Geschrei anstimmen oder zur Kasse gehen, meine Tasche auf der Theke ausleeren und sagen: »Was ist mit den hungernden Menschen in Afrika, die Bäuche gebläht und die Augen voll Eiter?«, denn in diesem Kaufhaus kann ich alles kaufen. Mein Bruder ist eben gestorben, und ich kann alles kaufen, was das Herz begehrt.
    »Du brauchst eine Herausforderung«, sagt Rebecca spröde. Sie ist acht.
    Und ich erwidere: »Habe ich nicht dich?«
    Sind es brave Kinder? Sind es anständige Menschen? In der Hauptsache, ja. Obwohl Emily etwas von einer Katze an sich hat, und Katzen, denke ich immer, springen einem nur deswegen auf den Schoß, um zu überprüfen, ob man schon kalt genug ist, um aufgefressen zu werden .
    Manchmal denke ich an Michael Weiss – ob auch er kapituliert hat, mit einer wartungsaufwendigen Frau und mit Kindern, die den Mittelstandstraum leben, und zwar voller Gier , wie meine beiden? Und ich habe das Gefühl, er könnte es deichseln, er wäre in der Lage, die Welt aus Rosa im Griff zu haben, Barbies zu mögen, aber nicht zu sehr, und welche zu kaufen oder sich am Ende doch nicht damit abzugeben.
    Liam hat nie ein Kaufhaus betreten.
    Und so stelle ich, Liam zu Ehren, die Gläser wieder zurück und fahre nach Hause und mache ihn auf all die Veränderungen aufmerksam, nun, da er tot ist.
    »Schau nur, die vielen Straßenlaternen!«, sage ich.
    Er ist nicht

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