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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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überzeugt.
    Tatsächlich habe ich das schon getan, als er noch am Leben war: all die kleinen Veränderungen und Irritationen, Parkerlaubnis für Anwohner, verstopfte Straßen, die sieben Millionen orangefarbenen Leitkegel zwischen hier und Kinnegad, auf all diese Dinge machte ich ihn aufmerksam, weil er achthundert Kilometer entfernt wohnte. Und obwohl er sporadisch nach Hause kam und seine Ferien im Westen verlebte, sind alle diese Veränderungen ohne ihn vonstattengegangen. Und obwohl keine von großer Bedeutung war, machten sie mich doch traurig, weil er zurückgelassen worden war. Liam existierte irgendwie in den Siebzigern. In Wirklichkeit mochte er kosmopolitischer gewesen sein als wir – Currygerichte in London, alle möglichen tollen Freunde -, aber wenn er nach Hause zurückkehrte, kam er uns immer leicht hinterwäldlerisch vor, wie ein Bauerntrampel.
    Mein ausgewanderter Bruder gibt ein altmodisches Gespenst ab, und als er starb, zog ich ihm abgetragene Gummistiefel an, denn in meiner Vorstellung reichten die Siebziger in Irland bis in die Fünfziger zurück.

30
    Ich rechne damit, dass das Haus überfüllt ist, aber an der Tür schüttelt Bea leise den Kopf.
    »Eigentlich nur wir«, sagt sie. »Und ein paar Nachbarn.«
    »Was erwartest du?«, will ich sagen. »Wer will schon kommen und im Wohnzimmer eine Leiche beschauen, wenn’s nicht mal ein anständiges Glas Wein im Haus gibt?« Aber ich verkneife es mir. Tom steht hinter mir. Er hat meinen Ellbogen gefasst und benutzt ihn als Steuerknüppel, um mich an ihr vorbeizulotsen, und eigentlich müsste ich mich ärgern, aber sein Griff ist so altmodisch. So hält einen keiner mehr, außer Frank auf der Arbeit, der schwul war und jetzt tot ist.
    »Es liegt alles im Auge des Betrachters«, sagte er einmal, als er mich fürsorglich auf eine fürchterliche Firmenfeier begleitete. Und ich denke: Armer Frank. Warum habe ich nicht um Frank getrauert? Und plötzlich und mit großer Überzeugung wird mir klar, dass ich das Obergeschoss mit Teppich auslegen muss, Frank wäre sehr dafür gewesen. Und ich muss mir wieder eine Reinemachefrau besorgen. Ich brauche eine Reinemachefrau, die sich um die zusätzlichen Fusseln kümmert. Dann kommt mir – wie immer an diesem Punkt – Rebeccas Asthma in den Sinn, und bevor der Gedanke zu Ende gedacht ist, fällt mein Blick auf Liams Leichnam, der in der guten Stube aufgebahrt ist.
    Kennen wir uns nicht?
    Den Farbton des neuen Teppichs, den ich kaufen will, sehe ich schon genau vor mir. Treibholz heißt er, glaube ich.
    Warum folgst du mir dauernd?
    Das Zimmer ist fast leer. Es ist niemand hier, mit dem ich mich über Kinderlungen oder Teppichfarben unterhalten kann, über Gewebe und Knoten, Seegras oder Wollanteile. Ob tot oder lebendig, Liam interessiert sich für dergleichen nicht. Ich setze mich hin. Sie haben ihm einen marineblauen Anzug und ein blaues Hemd verpasst – wie ein Polizist. Das hätte ihm gefallen.
    Wer hat ihn angekleidet?
    Der junge englische Bestattungsunternehmer mit den vollen Lippen und dem durchstochenen Ohr. Als er den schweren Kopf anhebt, um Liam die Krawatte um den Hals zu schlingen, unterhält er sich über das Handy mit seiner Freundin.
    Der Anzug, da bin ich mir sicher, wird in der Rechnung aufgeführt sein.
    Ich hatte erwartet, dass der Sarg quer im Zimmer steht, aber dafür ist nicht genügend Platz. Liams Kopf zeigt auf die geschlossenen Vorhänge, und hinter ihm auf hohen Ständern brennen Kerzen. Von meinem Sitzplatz aus kann ich sein Gesicht nicht richtig sehen. Der obere Rand des Holzsargs zerschneidet die Rundung seiner Wange. Oberhalb des Wangenknochens erkenne ich eine Höhle, in der seine Augen sitzen müssten, aber ich stehe nicht auf, um nachzusehen, ob die Augen offen sind oder die Lider zugedrückt wurden. Die Biegung des Knochens, mehr will ich von ihm im Augenblick nicht sehen, danke, das reicht mir.
    Sessel und Sofa sind an die Wand gerückt worden, aber Mrs Cluny, die eine Pause macht, um zu beten, zieht es vor, auf einem der harten Stühle zu sitzen, die aus der Küche hereingetragen worden sind. Kitty tut an der gegenüberliegenden Wand Dienst, für den Fall, dass ein Trauergast unziemlicherweise allein mit dem Leichnam zurückbleibt, für den Fall, dass unziemlicherweise der Leichnam allein zurückbleibt. Wie ich so auf der Armlehne des Sofas sitze, schaut sie mich an und rollt mit den Augen. Nach einer Minute kommt sie auf mich zu und fragt leise: »Wirst du

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