Das Familientreffen
denn oben schreit im Schlaf das Baby. Ich mache Anstalten zu gehen.
»Danke«, sagt er.
»Wie bitte?«
»Danke, dass du bei mir bleibst.«
»Ach, auch das noch.«
»Nein. Wirklich.«
Oder irgendeine Variante des Obenerwähnten – wir brüllen uns nur selten an, ich und Tom, wir hassen uns bloß.
»Bin gleich wieder da«, sage ich.
Und eines Abends – vielleicht war es sogar an diesem Abend, nach Seehecht in grüner Sauce und Brians draller Frau und der hässlichen Frau in der schlimmen Unterwäsche und all dem Gewinnen und Verlieren -, eines Abends nimmt Tom die Zigarette aus dem Mund. Er hält sie hoch, mir unters Kinn, und zerdrückt sie in seiner Faust. Als er die Hand öffnet, ist der Geruch armselig und schrecklich.
Er verscheucht die Gedanken.
Die Sache ist die: Wenn ich zu Rebecca hinaufgehe und ihr einen Kuss gebe, ist sie glücklich. Wenn ich mich auf die Armlehne setze und Tom einen Kuss gebe, ist er nicht glücklich. So verharre ich nur einen Moment länger im versengten Geruch seines Selbstekels. Ich drücke seinen Schädel gegen meine Brust. Das tue ich so lange, bis Rebeccas Geschrei genau die Tonhöhe erreicht, die mich noch jedes Mal auf die Füße zwingt. Dann gehe ich.
Was uns weitergeholfen hat, waren die Kinder, jedenfalls für eine Weile. Ich glaube, er hörte auf, mich zu hassen, nachdem ich meine Arbeit aufgegeben hatte. Natürlich würde Tom behaupten, er habe mich noch nie gehasst, er habe mich die ganze Zeit über nur geliebt. Aber ich weiß, wie Hass aussieht. Ich weiß es, denn es gibt auch einen Teil von mir, der gehasst werden will .
Den muss es wohl geben.
Wie auch immer.
Mit den Jahren wurde es leichter, aber richtig in Ordnung gebracht worden ist es eigentlich nie.
Daran musste ich denken, als ich in der Shelbourne Bar saß – dass ich mein Leben in Anführungsstrichen lebte. Ich könnte meine Schlüssel nehmen und »nach Hause« fahren, wo ich »Sex« haben könnte mit meinem »Mann«, genau wie so viele andere Leute. So halte ich es schließlich schon seit Jahren. Und ich schien mir aus den Anführungsstrichen gar nichts zu machen, schien nicht einmal zu merken, dass ich in ihnen lebte, bis mein Bruder starb.
28
Die Briten, stelle ich fest, beerdigen ihre Toten erst, wenn sie so tot sind, dass man ein anderes Wort dafür braucht. Die Briten warten so lange mit der Bestattung, dass die Leute sich versammeln, nicht etwa um zu trauern, sondern um sich darüber zu beschweren, dass der Leichnam ja immer noch herumliegt. Es gebe eine Warteschlange, sagen sie am Telefon (die Briten lieben Warteschlangen). Sie versammeln sich erst, wenn ihre Gefühle erkaltet sind.
Wie sonst soll ich mir die zehn Tage erklären, die wir warten müssen, um die Formalitäten abzuwickeln, den Totenschein und den Leichenpass, die ihre getrennten Wege in den einen Umschlag finden müssen, der meinen Bruder auf seiner letzten Heimreise begleitet?
Unterdessen, während die Computer warten und die Drucker klemmen, während die Assistenten des Untersuchungsrichters ins Fitnesscenter gehen und Standesbeamte sich mit ihrer defekten Zentralheizung abmühen, unterdessen liegt Liam in irgendeinem nicht näher definierten ausländischen Kühlschrank, und ich, wir alle machen mit unserem Leben weiter. Von Zeit zu Zeit, wenn ich im Haus umhergehe, durchfährt mich der Gedanke, dass ich schimpflicherweise etwas vergessen habe: In der Toilette unten habe ich einen Tampon ins Wasser fallen, auf einer Sessellehne einen halben Keks liegen lassen oder vergessen, meinen Tee auszutrinken. Ich spüre, wie er in meinem Mund kalt wird, als ich nach ihm suche und endlich die leere Tasse finde.
Jeden Tag fahre ich zum Griffith Way und sitze ziemlich steif mit meiner Mutter zusammen und mit Bea, falls sie da ist, oder mit Kitty. Wir reden über gewöhnliche Dinge. Oder wir machen es ihr vor dem Fernsehgerät bequem und ziehen uns in die Küche zurück, wo Kitty, wo wir alle geschrumpft aussehen oder wie übermäßig gewachsene Kinder. Ich bin schockiert von der Menge an Schönheitsprodukten, die wir benötigen, jede von uns eingeölt und eingefettet, bis es kein Stück Haut mehr gibt, das frei ist von kosmetischem Glanz oder Matt. So also ist es, in mittlerem Alter an dem Ort zu weilen, an dem wir einst Kinder waren, und ungeachtet aller grauen Strähnen werden wir jetzt wieder wie Kinder behandelt, nicht so sehr von unserer Mutter als vielmehr vom Tod selbst. Nur dass wir diesmal sehr brave Kinder sind.
Ich
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