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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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ich schlage auf den Tisch wie alle anderen auch und heule nach ihr.
    Dies hat meine Mutter im Lauf der Jahre vollbracht:
    1) Viele Tassen Tee
    Meine Mutter hat zeit ihres Lebens viele tausend Kannen Tee gebrüht – eigentlich hat sie nie etwas anderes getan. Und immer haben wir darum gekämpft. Midge mochte ihren stark, Ernest seinen dünn. Mossie schwenkte gern die Kanne herum, aber es war Ita, die mich einmal bespritzte, indem sie sich mit der Kanne im Kreis drehte – heute noch sehe ich das schmutzige Band Wasser vor mir, das in hohem Bogen auf mich zuschwappte, spüre den Streifen Schmerz an der Taille und weiß, wie kalt sich die Watte anfühlte, als ich den Tee abzutupfen versuchte.
    Wer möchte Tee?
    Richtige Alkoholiker, von der Willst-du’s-nicht-mal-mit-AA-versuchen-Art, hat sie merkwürdigerweise nur zwei hervorgebracht. Aber alle Hegartys haben Durst. Für eine anständige Tasse Tee würden die Hegartys einen Mord verüben.
    2) Nachkommen
    Die meisten der Mädchen sind genetische Sackgassen, und wer würde ihnen daraus einen Vorwurf machen? Midge jedoch hatte sechs – sie hatte sie früh und eines nach dem anderen. Ihr erstes fiel zeitlich mit Mammys letztem zusammen (es war kein Wettlauf, das dürfen Sie nicht glauben). Jem hat zwei wunderhübsche Babys. Mossie, der Psychotiker, hat drei achtsame Kinder, die das Elternhaus in Clontarf noch nie verlassen haben.
    3) Geld
    Keiner hat eine richtige Stellung, außer Bea, die als Büroleiterin in einem großen Maklerbüro in der Stadt arbeitet, ebenso Mossie, der Anästhesist ist (wir haben den Verdacht, dass er das Gas irgendwann einmal ein kleines bisschen zu lange aufdrehen wird). Aber wir anderen haben nur Euphemismen. Ita ist Hausfrau , Kitty Schauspielerin , ich bin eine Nachteule , Alice ist Gärtnerin . Ivor und Jem arbeiten beide in Multimedia , was der größte Euphemismus von allen ist. Ernest ist Priester (damit schließe ich meinen Beweisvortrag ab).
    4) Heterosexuelle
    »Seid ihr etwa alle hetero?«, fragte mich mein Freund Frank einmal im Ton größter Ungläubigkeit.
    »Hmmmmm...«, machte ich.
    Midge? Eigentlich nicht relevant, oder? Wenn man erst einmal tot ist. Oder, ersatzweise, wenn man einen Kneipenwirt geheiratet und ein Haus in Churchtown gekauft hat. Midge war Mutter, sie war Wischerin, Verwalkerin, Panikmacherin, sie hortete Schmerzen,besonders ihre größten und letzten. Sie mochte Lesbierin, heterosexuell oder Schafefickerin gewesen sein, eigentlich ist es viel zu traurig, darüber nachzudenken. Was Midge begehrte , hatte nicht die geringste Bedeutung. Und was den Rest anbelangt: Die Hälfte von Beas Liebhabern ist homosexuell, aber ich glaube nicht, dass sie es ist. Ernest ist zölibatär. Kitty stürzt sich in die Arme von Unmengen von Männern und liebt jeden von ihnen, und alle sind sie verheiratet. Gilt das etwa als sexuelle Orientierung? Sollte es jedenfalls – das kleine Miststück. Sie fickt bloß den unmöglichen Traum.
    Bei Alice weiß niemand Bescheid. Aber jeder weiß, wie’s bei den Zwillingen Ivor und Jem läuft, die äußerst angenehmen normalen Sex haben (hurra!) – nicht miteinander, wie ich gleich anfügen muss, sondern mit ihren jeweiligen Partnerinnen, von denen die eine ein Mädchen aus Surrey ist, die andere ein netter deutscher Rundfunkproduzent (männlich).
    Unterdessen hat Baby Stevie Sex mit kleinen Engeln, droben im Himmel, nackt wie der Rest der Putten. Er ist so linksrum, dass es rechts wieder rauskommt. Wenn sie sich küssen, geben sie kleine Geräusche von sich. Die hören sich an wie ihr Name. Putt. Putt. Putt.
    Keiner von uns ist normal. Es ist nicht so, dass die Hegartys nicht wüssten, was sie wollen, es ist nur so, dass sie nicht wissen, wie sie es wollen sollen. Bei ihrem Wollen ist etwas katastrophal schiefgegangen.
    Diese Empfindung habe ich, wenn ich die Treppe hinaufschaue zu dem Zimmer, in dem wir alle empfangen wurden: Ich spüre das Chaos unseres Schicksals – oder nicht so sehr ein Chaos als vielmehr eine Unbestimmtheit -, die Art, wie keiner von uns das rechte Gleis hat finden können. Und ich erinnere mich, wie stolz wir waren. Und wie treu ergeben. Und die Art, wie wir alle zusammenhielten. War das nicht einfach wunderbar ?
    Ich wusste stets, wo jeder war. Ich saß immer auf dem Fensterbrett unseres Zimmers, zusammengerollt vor der zerbrechlichen Glasscheibe, und behielt das gesamte Haus im Auge: Ita vor dem Badezimmerspiegel, Midge am Waschbecken. Mossie kratzt seine Kopfhaut

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