Das Familientreffen
ihrer Selbstsucht finde ich sie wunderschön.
»Ich finde es in Ordnung, sich selbst umzubringen«, spricht sie in meine Brust. »Du weißt schon, wenn man alt ist.«
Es fällt schwer, sich vor Augen zu führen, dass sie uns nicht kränken wollen – oder dass sie es nicht wissen, wenn sie es tun. Ich stoße sie von mir und sage mit tränenerstickter Schäm-dich -Stimme: »Dein Onkel Liam war nicht alt, Emily. Er war krank. Hast du gehört? Dein Onkel Liam war krank, im Kopf.«
Auf meinem Knie zögert sie und zeichnet mit dem Fingernagel ins glatte Nylon meiner Strumpfhose.
»So wie seekrank krank?«
»Ach, denk nicht mehr daran, okay? Denk einfach nicht mehr daran.«
Sie springt hoch, um mich zu umarmen, und damit hat sie den Sieg über alle meine Bedenken errungen. Und dann rennt sie davon, um zu spielen.
Eine Woche lang lege ich mir eine große poetische Rede an meine Kinder zurecht: dass es im Kopf kleine Gedanken gibt, die anwachsen können, bis sie den gesamten Verstand zerfressen haben. Winzige kleine Gedanken – sie sind wie ein Krebsgeschwür, und man kann nicht sagen, was ihre Verbreitung auslöst oder wen es trifft und warum einige davon befallen sind und andere verschont bleiben.
Ich bin sehr für Trauerarbeit, sage ich, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin sehr für normale Hirntätigkeit. Aber manchmal füllen wir uns damit an wie die kleinen hölzernen Vögel, die auf einer Stange sitzen – füllen uns damit an, bis wir, plitsch!, den Kopf ins Wasser tunken.
27
Etwa einen Monat nach der Beerdigung kommt Tom wie gewöhnlich nach Hause, er wirft seinen Mantel aufs Sofa, stellt seine Aktentasche ab, dann geht er zur Essecke, lockert seine Krawatte, zieht sein Jackett aus und hängt es über die Lehne eines Holzstuhls; er schlurft zur Frühstücksbar, nimmt sich ein Stück Obst aus der Schale, und ich denke: Es ist nie passiert, Liam ist nie gestorben, alles ist so, wie es schon immer war. Stattdessen sage ich: »Du würdest alles ficken, was zwei Beine hat.«
»Wie bitte?«
Ich sage: »Ich weiß einfach nicht, wo’s bei dir anfängt und wo’s aufhört. Du würdest die neunzehnjährige Kellnerin ficken oder auch die Fünfzehnjährige, die wie neunzehn aussieht.«
»Entschuldigung?«
»Ich weiß einfach nicht, wo bei dir die Grenze ist, das ist alles. Ich weiß nicht, wo’s bei dir aufhört. Pubertät, hört’s da bei dir auf? Die fängt bei Mädchen jetzt schon mit neun an.«
»Wovon redest du?«, fragt er.
»Ich rede nicht vom tatsächlichen Ficken. Natürlich nicht. Sondern nur davon, du weißt schon, wo bei dir das Verlangen aufhört. Wo hört bei dir das Wünschen auf? Kennst du gar keine Grenzen bei dem, was du da draußen alles ficken willst?«
Ich bin verrückt geworden.
»Himmelherrgott«, sagt Tom.
Er reißt sein Jackett von der Stuhllehne und steuert auf die Haustür zu, aber schon habe ich mir meine Handtasche geschnappt und bin vor ihm da und fummle am Riegel herum.
»Du bleibst hier«, sage ich.
»Geh mir aus dem Weg.«
»Du bleibst hier. Ich gehe. Ich bin diejenige, die in den gottverdammten Pub geht.«
Inzwischen habe ich die Tür aufgekriegt, und im Windfang kommt es zu einem lächerlichen Handgemenge – hallo, Booterstown! Als Tom merkt, dass er drauf und dran ist, mich zu schlagen, hebt er die Hände in die Höhe. Und das, nehme ich an, ist die Antwort auf die Frage nach seinen Regungen, nach seinen Handlungen und nach der Kluft dazwischen. Ob ich es wirklich so genau wissen will. Ich glaube nicht.
»Morgen kannst du die Mädchen zur Schule bringen«, sage ich.
Denn genau da enden alle unsere gewaltigen Gefühlsaufwallungen, bei der Frage, wer sie abholt und wer den Haferbrei kocht – früher zumindest, bis ich mich geschlagen gab und meine Ehe zu retten versuchte, indem ich den ganzen Kram selbst übernahm. Gott noch mal, ich könnte wirklich bitter werden.
»Was soll das heißen: ›morgen‹?«
Ich blicke ihn durchdringend an. Er hebt die Hand an die Lippe, als klebe da irgendetwas, was mir zu der halben Sekunde Vorsprung verhilft, die ich benötige, um über die Schwelle zu gelangen und mich die Einfahrt hinunter von ihm zu entfernen.
»Wo willst du hin?«
»Ich weiß nicht«, sage ich.
Und ich fahre zum Hotel Shelbourne, mit Kreditkarte.
Das ist ein Fehler.
Die Bar ist voller Leute, die sich amüsieren. Sie sitzen da und trinken und plaudern und lachen. Sie alle scheinen zu strotzen von – was immer es ist. Von der Aufgabe, sie selbst
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