Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
Vom Netzwerk:
bleiben?«
    »Nein«, antworte ich. Sie versteht nicht. Für mich ist die ganze Angelegenheit hiermit erledigt, mehr als erledigt. Ich will nur noch, dass das verdammte Ding endlich beerdigt wird und aus dem Weg geschafft ist.
    Ich sage: »Ich hole Ita oder jemanden. Nein. Ich kann ja gar nicht. Ich hab doch die Kinder.«
    »Ach, die Kinder«, sagt sie etwas zu laut. »Ja, du weißt schon: Kinder.«
    Und tatsächlich steht mit einem Mal Rebecca im Raum und kommt rückwärts auf mich zu, bis sie gegen meine Knie prallt.
    »Wo ist dein Vater?«
    Als ich hinüberblicke, sehe ich, wie sich Emily an den Türgriffen ins Zimmer hereinschwingt. Sie hat die Augen auf den Sarg geheftet und tritt mit dem Schuh gegen die lackierte Tür.
    »Würdest du bitte damit aufhören?«, sage ich.
    Sie hört nicht auf.
    »Wirst du wohl aufhören, an der Tür deiner Granny Trittspuren zu hinterlassen?«
    Dann fällt mir wieder ein, wo wir sind.
    »Schon gut«, sage ich zu ihr. »Er ist tot.« Was, wenn ich darüber nachdenke, nicht gerade die tröstlichste Bemerkung ist, die ich von mir geben könnte.
    Mit einem Lodern von Schottenrock und sandfarbenem Haar ist Rebecca wieder an der Tür, und die beiden sind verschwunden. Ich höre, wie sie in der Diele lachen, dann die Treppe hinaufrennen, obwohl sie nicht nach oben rennen sollen. In mir brandet Wut auf Tom hoch, der darauf bestanden hat, die Kinder mitzubringen, aber sich nicht damit abgeben will, auf sie aufzupassen, nicht einmal, wenn ein Toter im Haus ist. Danach drückt wieder jemand auf die Stummtaste, und es dauert eine Weile, bis mir auffällt, dass Kitty hinausgegangen ist und ich die einzige lebende Hegarty im Zimmer bin. Ich weiß nicht, wie lange die Stille anhält, aber es kommt mir sehr lange vor. Ich lausche auf die geflüsterte Hysterie der Mädchen in den Zimmern oben – ich bin an sie gefesselt, wo immer sie hingehen, und gefesselt an dieses Stück Müll in der guten Stube. Der rückwärtige Teil des Hauses ist angefüllt mit den Stimmen von Menschen, denen ich nicht begegnen möchte, und so bleibe ich, wo ich bin, und beschließe, mich nicht zu beklagen.
    In dieser Verfassung trifft mich Ernest an, der zur Tür hereinkommt, frisch vom Flugzeug. Er ist so unbestreitbar er selbst – es dauert einige Augenblicke, bevor ich aufhören kann, meinen großen Bruder vor mir zu sehen, und zurückweiche, um den heutigen Ernest mit prüfendem Blick in Augenschein zu nehmen. Er sieht gut aus, finde ich. Seine Kleidung ist ziemlich furchtbar, aber über dem Anorak und der Freizeithose aus Polyester sitzt sein Kopf, groß und gesund und von Jahr zu Jahr stattlicher. Was da im Kerzenschein schimmert, ist, wie ich merke, Grandpa Charlies Birne, und es sind Grandpa Charlies mächtige Hände, die jetzt meine an sich reißen, und als ich aufstehe und Ernest mich an seine Brust drückt, weiß ich nicht, ob dies eine priesterliche oder eine großväterliche Umarmung ist – jedenfalls eine ohne Brüste: Bei einer solchen Umarmung sind meine kleinen Brüste nicht im Weg.
    Wie macht er das bloß?
    Es ist seine Arbeit. Mein Bruder hat ein trainiertes Herz, für ihn ist Mitgefühl ein Muskel; wenn man spricht, neigt er den Kopf. Den Sarg würdigt er kaum eines Blickes, stattdessen beurteilt er den Ausdruck in meinen Augen. Dann wendet er sich dem Leichnam zu.
    »Verrat den anderen nicht, dass ich hier bin, ja?«, sagt er. »Noch nicht«, und mit einem Kopfnicken schickt er mich zur Tür hinaus. Und natürlich ist genau das der Grund, weshalb ich auch ihn hasse mit all seinem priesterlichen Freimut – diese Falschheit. Trotzdem, als ich aufwuchs, war Ernest immer nett zu mir. Wir hatten genau den richtigen Altersabstand.
    Draußen in der Diele horche ich auf die Stimmen in der Küche – ein geschärfter amerikanischer Tonfall, das muss Ita sein. Und Mossies Frau bringt ihre perfekten Kinder zum Schweigen.
    Ich kehre um und gehe nach oben, um meine zu suchen.
    »Rebecca! Emily!«
    Die Treppe ist schmal und steiler, als ich sie in Erinnerung habe. Über mir kann ich ihr Gelächter hören, wie das Gelächter von Kindern, die sich im Astwerk eines Baumes verstecken, doch als ich den Gang erreiche, sind sie verschwunden.
    Es ist lange her, dass ich hier oben gewesen bin. Dies war das Mädchengeschoss: hinten Midge, Bea und Ita, vorn, mit Blick auf die Kirschblüte, schräge schwarze Kabel und eine weiße Straßenlaterne, ich, Kitty und Alice. Damals kam mir das Zimmer nicht klein vor. Kittys

Weitere Kostenlose Bücher