Das Familientreffen
Reisetasche liegt auf ihrem Bett, die anderen beiden Betten sind leer. Das Fenster ist von einem Gewirr aus Regalen und kleinen Schranktüren gerahmt, die uns mein Vater aus weißem Furnierholz gezimmert hatte. Auf einem Regalbrett liegen noch ein paar Schulbücher, keines davon auf Englisch – vielleicht sind sie deswegen nicht weggeworfen worden. Das Wrack von Siegfried Lenz und Erzählungen von Guy de Maupassant. In einer davon, La Mer betitelt, bewahrt ein Matrose, wie ich mich aus meiner Schulzeit erinnere, seinen abgetrennten Arm in einem Salzfass auf, um ihn mit nach Hause zu nehmen. Die Bücher sehen eher beschmutzt als gelesen aus, aber gelesen haben wir sie:
Tá Tír na nÓg ar chúl an tí
Tír álainn trína chéile
Ich drehe mich um. Die Mädchen stehen in der Tür.
»Kommt, jetzt aber nach unten mit euch.« Und diese Kinder, die nie tun, was ich ihnen sage, machen auf dem Absatz kehrt und gehen vor mir die Treppe hinunter. Am Fuß der Treppe nimmt Rebecca meine Hand und führt mich wie eine abhandengekommene Riesin, die sie in der Diele gefunden hat, zur Küche.
Es gab da etwas, das Mossie mit unseren Händen anstellte. Er drückte die kleinen Knochen so lange zusammen, bis man aufschrie, rieb die Fingerknöchel gegeneinander, hin und her. Da ist er, in der Küche, mit Tom steht er an einem Tisch: die beiden Akademiker, die sich von Mann zu Mann unterhalten. Warum setzen sich Männer eigentlich nie hin?, denke ich, dann merke ich, dass sämtliche Stühle im Zimmer bei der Leiche aufgereiht sind. Ita lehnt an der Spüle. Sie wirkt kleiner. Selbst ihr Gesicht wirkt kleiner – vielleicht ist es das Licht vom Fenster hinter ihr, das sie so verkleinert. Aber sie hat sich gut gehalten, zu gut, und als ich sie küsse, habe ich die würgende Empfindung der wächsernen Haut nebenan.
Dann umarmen mich die Zwillinge von beiden Seiten – wie sie es immer tun, stets angenehm und immer überraschend. Ich schaue mich nach Kitty um und sehe sie draußen im Garten rauchen. Die mysteriöse Alice ist nicht hier. Wahrscheinlich verrückt, denke ich plötzlich. Wahrscheinlich war die mysteriöse Alice schon immer verrückt.
Midges Kinder stehen in einem Grüppchen zusammen, und dankbar wende ich mich an sie, aber Bea wirft mir einen Blick zu und schleudert ihr Haar über eine Schulter.
Schon gut. Schon gut.
Ich gehe hinüber zu meiner Mutter und bleibe, während eine Nachbarin die rituellen Worte zu Ende spricht, bei dem Sessel stehen, in dem sie sitzt.
»Ja. Danke. Ja.«
Die Nachbarin, Mrs Burke, beugt sich zu Mammy hinab und flüstert ihr irgendein großes Geheimnis ins Ohr, dabei streichelt sie ihr immer wieder die Hand.
»Ja«, sagt Mammy abermals. »Danke. Ja.«
Als Mrs Burke davongeht, trete ich vor, um meine Mutter zu küssen.
Jetzt ist es geschehen. Während der vergangenen zehn Tage hat sie ferngesehen und auf etwas gewartet, das nunmehr endgültig eingetreten ist. Es hat sie, wie man sagt, »bös erwischt«. Wie ein Lastwagen. Es ist nicht mehr viel von ihr übrig.
Mammy, schon immer schwer fassbar, ist jetzt vollkommen verblasst. Ich blicke ihr in die Augen und versuche, sie zu finden, aber was ihr von sich noch geblieben ist, bewahrt sie in ihrem tiefsten Innern. Von diesem fernen Ort aus betrachtet sie die Welt und lässt alles geschehen, ohne genau zu wissen, was es ist. Schwer zu sagen, wie viel sie überhaupt in sich aufnimmt, aber zugleich wohnt ihr etwas Friedliches inne.
»Ach, hallo«, sagt sie zu mir, und ihre Stimme birgt eine Art nebelhafter Liebe – zu mir, zu dem gedeckten Tisch, zu allen hier.
»Mammy«, sage ich und bücke mich, um ihr die Wange zu küssen, und obwohl sie im Küssen oder Geküsstwerden noch nie gut war, zuckt sie nicht etwa vor mir zurück, sondern neigt ihren Kopf wie eine Debütantin, um sich meine kindlich gespitzten Lippen aufdrücken zu lassen. Ich hege den Argwohn, dass sie mich vollständig vergessen hat, aber dann nimmt sie meine Hand, legt sie flach zwischen ihre beiden leichten Hände und sieht zu mir auf.
»Ihr wart immer ein gutes Gespann«, sagt sie.
»Ja, Mammy.«
»Ihr habt euch immer prächtig verstanden, nicht wahr? Ein gutes Gespann.«
»Ja, Mammy. Danke.«
Toms Hand auf meinem Kreuzbein strahlt Wärme aus. Zumindest glaube ich, dass es seine Hand ist, doch als ich den Kopf wende, ist er nicht da. Wer hat mich berührt? Ich richte mich auf und mustere sie alle. Wer hat mich berührt? Ich will es laut in den Raum hinein sagen, aber die
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