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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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Hegartys, die Ehefrauen der Hegartys und die Kinder der Hegartys stehen in einiger Entfernung von mir. Nichts ahnend reden sie miteinander und essen.
    »Hast du es auch bequem da, Mammy?«, frage ich und will mich mit dieser Frage verabschieden.
    »Ich muss die Kinder sehen«, sagt sie.
    »Wie bitte?«, frage ich. »Wie bitte?«
    »Die Kinder«, sagt sie wieder. »Ich muss die Kinder sehen.«
    »Die sind oben, Mammy«, sage ich. »Nein. Sie sind hier. Ich geh sie suchen, Mammy. Ich werde sie für dich finden.«
    Dann steht Tom endlich, tatsächlich, neben mir. Er beugt sich vornüber, um in wortlosem Beileid die Hand meiner Mutter zu ergreifen, dann richtet er sich auf, um wieder meinen Ellbogen zu nehmen und mich herumzuschwenken, sodass sich mein Gesicht den anderen im Raum zuwendet.
    »Bist du bei ihm gewesen?«, frage ich.
    »Er sieht...«, sagt Tom. Dann zögert er. »Das ist er nicht.«
    »Ich wüßte es nicht zu sagen«, erwidere ich.
    Toms Finger umklammern meinen Arm. Sie sind fest von sich überzeugt, diese seine Finger. Sie lassen mich nicht im Geringsten zweifeln. Dies ist der Mann, der bald mit mir vögeln wird, um mich daran zu erinnern, dass ich noch am Leben bin. Unterdessen sagt er: »Er sieht aus wie ein Grundstücksmakler.«
    »Das macht das Hemd«, sage ich.
    »Ah. Das kommt also auf uns alle zu.«
    Dann stellen sich die Kinder ein: Rebecca, Emily und Róisín, Mossies Jüngste – so oft gesehen, so selten gehört. Richtig niedlich. Sie steht vor mir und wackelt mit dem Bäuchlein.
    »Willst du deiner Tante nicht Hallo sagen?«, frage ich. »Willst du es sagen, oder willst du es fiepen, wie eine kleine Maus? Fiep, fiep.«
    Mit meinen alten Hexenhänden zwacke ich ihr Bäuchlein. Dann richte ich mich auf und murmle Tom zu: »Mammy sagt, sie muss die Kinder sehen.«
    »In Ordnung.«
    »Wirst du wohl mit dem Scheiß aufhören«, sage ich.
    »Wie bitte?«
    »Wozu muss sie die Kinder sehen?«
    »Nun ja«, sagt Tom.
    »Dafür sind Kinder nicht gemacht«, sage ich recht grimmig. Und er wirft mir einen Blick unvermuteter Anteilnahme zu, ehe er die Mädchen bei den Schultern packt, sie umdreht und hinüberschubst zu ihrer Oma.
    »Gebt eurer Granny einen Kuss, macht schon.«
    Die Mädchen stehen vor meiner Mutter. Es kann gut sein, dass sich Emily tatsächlich vor ihren Augen den Mund abwischt – sie mag keine feuchten Küsse, sagt sie, nur trockene wie die »von meinem Daddy«. Als es so weit ist, sind keine Körpersäfte an dem Kuss beteiligt. Meine Mutter hebt die Hand und legt sie Rebecca auf den Kopf, dann dreht sie sich ganz feierlich um und tut dasselbe bei Emily, die die Gebärde mit großen Augen entgegennimmt.
    Ich beobachte das Figurenensemble wie aus weiter Ferne. Es ist, als wäre ich mit keiner von ihnen verwandt. Aber zugleich tobt das Blut in meinen Adern.
    »Wofür sind sie denn gemacht?«, fragt Tom.
    »Sie sind für gar nichts gemacht«, antworte ich. »Sie sind einfach.«
    Und das meine ich ernst.
    Rebecca kommt wieder zu mir. Ihre Augen stehen voll unvergossener Tränen, und ich bringe sie kurz hinaus. Das andere Zimmer ist vom Sarg in Beschlag genommen, sodass wir nirgendwohin können außer zur Treppe, wo wir sitzen bleiben, solange meine sanfte, willenlos treibende Tochter in meinem Schoß um etwas weint, das sie nicht versteht. Dann wird sie etwas wacher.
    »Ich will nach Hause«, sagt sie, noch immer mit gesenktem Kopf.
    »Wir gehen bald.«
    »Es ist nicht gerecht. Ich will nach Hause.«
    »Was ist nicht gerecht?«, frage ich. »Was ist daran nicht gerecht?«
    Sie, das Kind, fühlt sich von der Nähe des Todes beleidigt. Vielleicht durchkreuzt er ihr Vorhaben, in einer Mädchen-Band zu spielen – jedenfalls bilde ich mir das ein, und plötzlich verspüre ich den Impuls, sie zum Sarg zu führen, sie auf die Knie zu stoßen und zu zwingen, die vier letzten Dinge zu bedenken.
    Himmel. Woher habe ich denn diese Schnapsidee? Ich muss mich beruhigen.
    »Das hat nichts mit dir zu tun, hörst du? Menschen sterben, Rebecca.«
    »Ich will nach Hause!«
    »Und ich will, dass du dich hier ein bisschen erwachsen aufführst. Hörst du?«
    Und so geht es immer weiter.
    »Ich hab ihn nicht mal gemocht«, sagt sie mit einem letzten schrecklichen Wimmern, und da muss ich so laut lachen, dass sie aufhört zu weinen und mich anschaut.
    »Ich auch nicht, Liebling. Ich auch nicht.«
    Emily ist gekommen, um mich zu suchen, gefolgt von Tom. Also stehen wir auf, trocknen unsere Tränen und gehen

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