Das Familientreffen
stelle ich mich auf Alices Bett und ziehe eine Keksdose herab, auf der in der schwachen und schnörkeligen Handschrift meiner Mutter das Wort »Papiere« steht. Ich suche etwas, das sie nicht gefunden hat, aber die einzigen Gegenstände, die in der Dose wahllos durcheinanderliegen, sind irgendwelche Urkunden: Firmbescheinigungen, Zertifikate über Kittys irischen Volkstanzkurs und Ernests siegreiche Rede beim Feis Maithiu, seltsamerweise auch meine B.-A.-Urkunde: meine schöne runde Zwei von der National University of Ireland, Liams Schulabgangszeugnis, das wird ihm jetzt herzlich wenig nützen. Anscheinend hat Mammy jedes Stück Papier aufgehoben, das dick und zusammengerollt und nutzlos ist. In Gedanken gehe ich das ganze Haus durch und überlege, wo die wichtigen Dokumente wohl verwahrt sein könnten, Geburts- und Sterbeurkunden, Fotos, Vertrags- und Übertragungsurkunden. Ich weiß, wo sie sie aufbewahrt, denke ich plötzlich, und stelle die Dose aufs Bett.
Aber ich habe die Geister aufgestört. Sie versammeln sich jetzt draußen vor der Zimmertür, wie früher die Geister meiner Kindheit vor derselben Tür. Ihre Geschichte ist handgreiflich, dort draußen auf dem Gang im Griffith Way, und sie wartet ein weiteres Mal auf mich.
Wer ist es?
Ada zuerst, auf sachliche Art tot. Sie ist ein dürres altes Gestell, ein Geist von der Art, der stets verneint. Ada macht einfach weiter mit dem Totsein. Die Vergangenheit ist eine Lache zu ihren Füßen.
Auch Charlie ist da, watschelnder Gang und braune Haut. Charlie, dem kein Fitzel Schlechtigkeit innewohnte und der doch alles mögliche Schlechte tat – schlechte Schulden und gebrochene Versprechen und schlechter Sex mit Ladenmädchen, Hausfrauen und ab und zu Schauspielerinnen. Charlie, der stets sein Glück versuchte, dabei versuchte ihn stets sein Glück, und Glück und Unglück waren ein und dasselbe. Charlie kann sich nicht damit abfinden, tot zu sein, bis er alles wiedergewinnt für Ada, seine große, wahre Liebe.
Dies sind meine Albträume. Durch die muss ich hindurch, bevor ich nach unten kann.
Ich drücke den Türgriff, und Nugent ist ein aalglattes Ekel auf dem Gang. Er zieht wie ein Geruch durchs Haus. Nugent spielt mit seiner Schwester Lizzie, jetzt, da sie beide tot sind. Sie küssen einander und sind getröstet. Atmen nicht. Das Gewirr und Geschlitter ihrer Zungen ist endlos, ist dumpf und kalt.
Ich überquere einen knappen Meter Teppichboden, der mich zum Treppenabsatz bringt. Ich rutsche die Stufen hinab, jeweils eine. Ich bin neun Jahre, sechs Jahre alt, bin wieder vier. Ich kann meine Hand nicht aufs Geländer legen, falls ich etwas berühre, das ich nicht verstehe. Der Lichtschalter am Fuß der Treppe scheint zurückzuweichen, je schneller ich rutsche. Wer hat das Licht ausgeschaltet? Warum ist in der Diele das Licht ausgeschaltet, wo es doch eine Leiche im Haus gibt?
Der Letzte ist immer der Schlimmste. Mein Onkel Brendan in Kniestrümpfen und kurzen Hosen. Er steht in der Diele, vor dem Zimmer der Zwillinge, dem Zimmer, in dem Baby Stevie starb, und sein mittelalter Kopf ist zum Bersten angefüllt mit all den Dingen, die er Ada mitteilen muss und die sie von ihm nicht hören will. Brendans Gebeine sind mit den Gebeinen anderer Menschen vermengt, und so gibt es einen Tumult murrender und jammernder Seelen unter seinen Kleidern. Würde er seinen Hosenschlitz aufknöpfen, sie würden brüllend hervorstürzen, würde er den Mund aufmachen, sie würden zwischen seinen Zähnen hervorschwappen. Brendan hat keine Ruhe vor ihnen, vor den Seelen der Vergessenen, die für immer in ihm krabbeln und quellen und jammern müssen. Er greift unter seinen Kragen, um sich zu kratzen, und schon bricht sich eine Handvoll nach der anderen Bahn. Seine unsympathischen blauen Augen sind der einzige Ort, der frei von ihnen ist, daher starrt Brendan mich nur an, als ich nach dem Lichtschalter greife, und sein Hemd hebt und senkt sich, und aus seinen Ohren sickern die Verrückten und die unbequemen Toten.
Das Licht geht an. Wie es das immer getan hat. Und bei Licht ist mein Körper barmherzigerweise neununddreißig Jahre alt. Und als ich in die gute Stube gehe, ist es ganz still. Bei Liams Leichnam treiben sich keine Geister herum, nicht einmal sein eigener Geist.
Die Kerzen sind niedergebrannt.
In der Nische nahe dem Fenster steht ein Möbelstück – ich glaube, wir haben es immer »die Anrichte« genannt -, ein schweres Eichending mit Fächern für Gläser und Vasen
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