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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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gesagt. Keinem von ihnen habe ich je die Wahrheit gesagt.
    Aber was hätte ich auch sagen sollen? Vor dreißig Jahren hat ein Toter einem noch Toteren die Hand in den Hosenstall gesteckt. Bestimmt gibt’s noch andere Dinge, über die man reden müsste. Bestimmt gibt’s noch andere Dinge, die enthüllt werden müssten.
    Aber was zum Beispiel? Was?
    Ich helfe Bea beim Abwasch, während Kitty einen Stapel Teller zur Spüle trägt.
    »Was machst du denn da?«, sagt Bea zu ihr.
    »Ich räume ab«, antwortet Kitty.
    »Oh.«
    »Wie bitte?«
    »Oh. Nein, bitte, tu das nur. Bitte, räum ab.«
    »Du Arsch!«
    »Nein, es ist nie zu spät.«
    »Ach, fick dich doch ins Knie.«
    »Na, dann kratz aber zuerst die Essensreste ab, ja? Kratz sie ab, ja? Kratz sie ab, und dann stellst du die Teller hier aufeinander.«
    Kitty hebt einen Teller hoch über den Kopf, als wolle sie ihn auf dem Fußboden zertrümmern. Niemand sieht hin. Einen Augenblick lang lässt sie ihn in der Höhe schweben – dann wirft sie den Kopf zurück und trägt das Ding feierlich erhoben zum Abfalleimer. Sie macht Anstalten, die Essensreste abzukratzen, aber dann kann sie nicht anders und stopft alles zusammen in den Abfall, Essen, Teller, alles.
    »Himmel!«, kreischt sie und starrt auf das Messer, das in ihrer Hand zurückgeblieben ist, als würde es von Blut triefen. Ich blicke zur Decke empor – oben läuft Mammy immer noch hin und her.
    »Du lieber Himmel!«, sagt Kitty, wirft die Mordwaffe in den Abfalleimer und flieht hinaus in den Garten, um ihre Kippe zu Ende zu rauchen.
    »Bea«, sage ich.
    »Was?«, entgegnet Bea äußerst wütend, als sie das Geschirr aus dem Abfalleimer fischt. » Was? «
    Und ich weiß, was sie meint. Sie meint: Was soll uns die Wahrheit jetzt noch nützen?
    Ita kommt aus dem Leichenzimmer und knallt eine Flasche seltsamen Whiskey mitten auf den Tisch aus Gelbkiefernholz.
    »Was anderes hab ich nicht gefunden«, sagt sie. Die Flasche hat einen ulkigen irischen Namen. Sie hat etwas Ornamentales.
    »Ich fahre zum Spirituosenladen«, sagt Jem leise.
    »Nein, nein. Lass gut sein.«
    Jedenfalls schrauben wir den Verschluss auf und schenken uns Whiskey ein. Dickflüssig und süß sitzt er in den Gläsern. Ein befremdliches Ritual, denn obwohl alle Hegartys trinken, so trinken wir doch nie gemeinsam.
    »Nun guckt euch diese Beine an«, sagt Ivor, schwenkt den Whiskey und hält ihn ans Licht. Wir nippen an unserem Getränk und überlegen einen Moment, und plötzlich nimmt Jem seine Autoschlüssel an sich, und unter einem Schwall von Anmerkungen und Anweisungen zu Rotwein und Weißwein geht er ab. Die Hegartys haben einen langen Tag hinter sich.
     
    Bea, die immer noch auf ihrem hohen Ross sitzt, übernimmt die erste Schicht in der guten Stube, während wir anderen in der Küche bleiben, herumlottern und reden. Ernest inspiziert die Wandschränke – vielleicht etwas zu genau, er tunkt den Zeigefinger in uralten Mango-Chutney und schnüffelt am Senf. Am Kiefernholztisch gibt Mossie gelegentlich großspurige Meinungen von sich, während Ita ihm Gesellschaft leistet. Sie lehnt an der Frühstücksbar, vom Alkohol zu sehr außer Gefecht gesetzt, um auch nur einen Teller abzuwaschen.
    Es ist wie Weihnachten im Hades. Es ist, als wären wir allesamt tot, und das ist völlig in Ordnung so.
    Einer nach dem anderen trinken wir unsere Gläser aus und setzen uns, bereit, den Wein zu entkorken, wenn er eintrifft. Und als wir ihn endlich haben, bringen wir keinen Toast auf den Toten aus, sondern trinken nur und plaudern wie ganz gewöhnliche Leute.
    Die Rede kommt auf die mysteriöse Alice und auf das überraschende Erscheinen Onkel Vals, der so geschniegelt aussieht.
    Dann sagt Ivor, er spiele mit dem Gedanken, sich in Mayo ein Haus zu kaufen.
    »Wie bitte?«, sagt Kitty, die der Alkohol in eine typische Bühnen-Irin verwandelt. »Zurück zur alten Scholle?«
    »Na ja, nicht unbedingt an denselben Ort.«
    »Himmel.« Kitty starrt vor sich hin, als nähme sie die Scholle in Augenschein. Sie braucht einen Angriffswinkel. Den brauchen wir alle. Eine Weile lang unterhalten wir uns über Zinssätze und über Flüge nach Knock in der Grafschaft Mayo.
    Dann sagt Ernest recht milde: »Nicht viel Geld da oben.«
    »Na, genau darum geht’s doch«, sagt Ivor. Und merkt, dass er bereits in der Defensive ist.
    »Ich weiß nicht«, sage ich. »Das könnte ich nie, diesen ganzen Touristenscheiß, dieses Ist-es-nicht-herrlich-hier und

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