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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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und mit Schränkchen darunter. Ich durchsuche die Schränkchen und finde nichts. Will sagen, ich finde alles: ein altes Mixgerät in einer durchsichtigen Plastikhülle, die vor Alter ganz grau ist, ein paar 78er-Schallplatten aus der unwahrscheinlichen Zeit vor ihrer Eheschließung, Jussi Björling und Furtwängler dirigiert , ein Scrabble, ein Spiel namens Kamelrennen , ein Netz mit vier angeschlagenen Porzellanfrüchten, einen Stützverband für ein Knie, das schon seit Langem nicht mehr schmerzt. Dann fällt mir ein, nach oben zu schauen. Dort, hinter dem Ziergitteraufsatz, befinden sich einige Schachteln. Ich schiebe das Deckchen beiseite, klettere hinauf und hangle nach einem grünen Schuhkarton. Ich zerre ihn herunter, fange ihn auf und nestle am Deckel herum, auf den mein Vater das Wort »Broadstone« geschrieben hat. Dann lasse ich mich herab, stehe wieder auf dem Fußboden und öffne den Karton.
    Er enthält eine braune Papiertüte mit ein paar Fotos, alle sepiabraun. Einige Quittungen – von der Art, wie man sie in einem altmodischen Fleischerladen bekommt. Ein dickes kleines Bündel Briefe auf blauem Schreibpapier mit Wasserzeichen, wie eine Frau sie verwenden mag, zusammengehalten von einem Schnipsgummi. Eine Reihe Notizbücher mit festem blauem Einband, jedes davon hochkant mit einer Länge »Schlüpfergummiband« verschlossen, wie Ada es nannte, ganz gleich, wozu sie es verwendete.
    Es sind Mietbücher, sie setzen 1937 ein, als meine Mutter acht Jahre alt war. Das erste erstreckt sich über fünfzehn Jahre, zwölf Wochen pro Seite. Dieselbe Handschrift, derselbe Füllfederhalter, Zeile für Zeile, Freitag für Freitag, und alljährlich eine kleine Mieterhöhung. Der Füllfederhalter setzt sich auch im zweiten Band fort und wird erst im dritten abgelöst – da wird die Miete dann schon monatlich beglichen, und die Handschrift schwankt zwischen Bleistift, rotem Kugelschreiber oder was immer gerade zur Hand war.
    Was haben die in unserem Haus im Griffith Way zu suchen, sechzehn Jahre oder länger nach dem Tod der Frau? Wozu würde jemand dergleichen aufheben, es sei denn aus Furcht – vor dem langen Arm des Gesetzes oder vor dem Finanzamt, das den Steuerstatus eines Hauses überprüft, das Ihnen nie gehört hat und vor Ihnen auch Ihrer Mutter nie gehört hat? Als ich das dritte dieser Mietbücher wieder in den Karton zurücklege, habe ich ein Übelkeit erregendes Gespür dafür gewonnen, was sie dem Eigentümer bedeuteten, die Rechte, die sie ihm zuerkennen mochten.
    Nach 1975 kommt nichts mehr. Leere Seiten. Ich überlege, ob es vielleicht das Jahr war, in dem Nugent starb. Ich hole das Buch noch einmal hervor, drehe mich um und will es Liam zeigen, da sehe ich, dass Ada uns von der Tür aus beobachtet. Da ist sie. Ich sehe sie nicht so, wie ich die Geister auf der Treppe »sah«. Ich sehe sie, wie ich eine leibhaftige Frau sehen würde, die im Dielenlicht steht.

31
    Ich weiß nicht, wie der Rest der Nacht verlief oder wer bei Liams Leichnam saß, nachdem ich gegangen war, ich vermute, Bea und Ernest haben den Löwenanteil übernommen, obwohl sie, wie Kitty mir später berichtete, irgendwann alle in die gute Stube umgezogen sind und Karten gespielt haben. Anscheinend habe ich dort dann irgendwann Rabatz gemacht. Mossie schob mir eine saure kleine Pille in den Mund, und Ernest versuchte, mit mir zu beten, aber ich weigerte mich rundheraus, in meinem alten Kinderbett zu schlafen, und so setzten sie mich in ein Taxi und schickten mich nach Hause.
    Als ich ankam, war das stille Haus eine ausgesprochene Wohltat – ich glaube, das ist einer der Gründe, weswegen ich nachts jetzt immer herumlaufe, um wieder dieses Gefühl heraufzubeschwören, ein Gefühl der Zurechnungsfähigkeit und der Leere, das Gefühl, dass ein Zimmer so mühelos ins nächste übergeht. Daher blieb ich eine Weile auf, und dann ging ich nach oben und hatte zum letzten Mal Sex mit meinem Mann.
    Natürlich lag es nicht in meiner Absicht. Nach dem Abend, den ich hinter mir hatte, lag es nicht in meiner Absicht, irgendwelchen Sex zu haben, geschweige denn abschließenden Sex. Aber ich schlüpfte ins Bett. Tom war noch wach. Und er war in mich verliebt. Es hat wirklich keinen Sinn, nach den Gründen zu fragen. Er liebte mich, er wollte mich zurückzerren in das Land der Lebenden. Und vielleicht wollte er, nun, da meine Seele so weich war, seinen Abdruck auch dort hinterlassen. Mein Körper jedoch war nicht weich. Ich fragte mich, warum ihm

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