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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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in ihren Höhlen kreisen, zu dem Licht der aufgehenden Tür hin, in der meine Großmutter steht.
    Ich glaube nicht an das Böse – ich glaube, dass wir Menschen sind und fehlbar, dass wir Dinge erschaffen und sie auf ganz gewöhnliche Weise ruinieren -, und doch erlebe ich die langsame Drehung seines Gesichts zur Tür als etwas Böses. In seiner alten Brust steigt eine Blase auf: eine Art Geschwulst, die jeden Augenblick aus seinem aufgerissenen Mund austreten und die gesamte Welt beflecken könnte.
    Was ist es?
    Ich kann mich nicht rühren.
    In dieser Erinnerung oder in diesem Traum kann ich es weder anhalten noch seinen Fortgang nehmen lassen. Was immer aus seinem Mund kommt, wird mich entsetzen, obwohl ich weiß, dass es mir kein Leid zufügen kann. Es wird die Welt füllen, aber nicht prägen. Schon haftet es in der Feuchte des Teppichs und in dem Geruch nach Desinfektionsmitteln: das Gefühl, dass Lamb Nugent uns alle verhöhnt, dass selbst die Wände seine verschlagenen Absichten ausschwitzen. Das Muster der Tapete wiederholt sich bis zum Erbrechen, während Nugents wortloses Ding, heiß in meinem Griff, steif und selbst aus dem Abstand von Jahren herrlich, sich stolz aufbäumt und in meine Hand weint.
    Und was er sagt, als die Tür ganz offen steht und sein Mund ihm ganz offen steht, die Blase, die im O seines Mundes zerplatzt, ist ein einziges Wort: »Ada.«
    Natürlich.
    Freut sie sich über das, was sie da sieht? Erfreut es sie?
    Wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, oder mir einbilde, mich daran zu erinnern, wie ich in Adas Gesicht starre, während sich Lamb Nugents Ladung auf meiner Hand ausbreitet, kann ich nur eine Leere oder die Leerstelle ihres Gesichts heraufbeschwören. Allerhöchstens steht in Adas Gesicht ein Wort geschrieben, und dieses Wort heißt: »Nichts.«
    Dies ist der Augenblick der Schuldzuweisung. Die verunreinigte Luft von Adas guter Stube wird an ihr vorüberströmen, während sie im gelben Licht der Diele steht. Dies ist der Augenblick, da wir erkennen, dass die Schuld an allem von Anfang an Ada trifft.
    Der verrückte Sohn und die konturlose Tochter. Der konturlosen Tochter endlose, konturlose Schwangerschaften, die Art, wie jedes Einzelne ihrer Enkelkinder irgendwie danebengeraten ist. Dies ist der Augenblick, da wir uns fragen, was Ada verbrochen hat – denn irgendetwas muss es doch gewesen sein -, dass sie so viel Tod in die Welt gebracht hat.
    Aber ich weise ihr keine Schuld zu. Und ich weiß nicht, warum ich das nicht tue.
    Ich schulde es Liam, einige Dinge klarzustellen – was in Broadstone geschehen ist und was nicht geschehen ist. Denn es gibt Folgen. Das wissen wir. Wir wissen, dass wirkliche Geschehnisse wirkliche Folgen nach sich ziehen. Auf eine Art, wie unwirkliche Geschehnisse es nicht tun. Oder nahezu wirkliche. Oder wie immer Sie die Geschehnisse nennen, die sich in meinem Kopf abspielen. Wir wissen, dass es einen Unterschied zwischen dem fleischlichen Körper und dem gedachten Körper gibt, dass, wenn Sie jemanden wirklich berühren, etwas Wirkliches geschieht (allerdings nicht das, was Sie erwarten).
    Was immer Liam widerfahren ist, hat nicht in Adas guter Stube stattgefunden – ganz gleich, welches Bild ich in meinem Kopf herumtrage. So dumm wäre Nugent nicht gewesen. Der Missbrauch fand in der Garage statt, zwischen den Autos und den Motorteilen, die Liam liebte. Und dort draußen war Nugent auch auf gewöhnliche Weise abscheulich zu meinem Bruder. Er hatte seine Sadismen, davon bin ich überzeugt, und seine Methoden. Das muss ich klarstellen, weil ich irgendwo in meinem Kopf, in einem eigensinnigen und gottverlassenen Teil von mir, glaube, dass Begehren und Liebe ein und dasselbe sind. Sie sind nicht ein und dasselbe, sie sind nicht einmal verwandt. Als Nugent meinen Bruder begehrte, liebte er ihn nicht im Mindesten.
    Mehr weiß ich nicht.
    Ebenso könnte ich sagen, dass auch Liam ihn gewollt haben muss. Oder etwas wollte.
    »Nun sieh mal einer an, was du da hast«, sagt Nugent, als ich mein Auto weinend durch die nächtlich erleuchteten Straßen Dublins steuere. »Nun sieh mal einer an, was du da hast.«
    Was mich betrifft – ich glaube nicht, dass ich die Garage mochte, und ich habe sie nicht oft betreten. Wenn ich in diesen Nächten umherkutschiere und den Wagen anhalte, frage ich mich allerdings unter anderem, ob es nicht vielleicht auch mir widerfahren ist.
    Was kann ich sagen? Ich glaube nicht.
    Ich füge es meinem Leben hinzu, als ein

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