Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
Vom Netzwerk:
sagt ihre Stimme durch die Lücke. »Bea?«
    »Nein, Mammy, ich bin’s.«
    Ich gehe zu ihr hinein. Als ich die Tür ganz aufstoße, stelle ich fest, dass sie schon wieder auf ihrem Bett sitzt, fast unheimlich, wie ein Video, das vorgespult und dann angehalten worden ist.
    »Was willst du, Mammy, ist alles in Ordnung bei dir?«
    »Ich dachte, du wärst Bea«, sagt sie.
    »Nein, ich bin’s, Mammy. Soll ich sie holen?«
    Aber sie weiß es nicht mehr.
    »Komm. Ins Bett mit dir, Mammy. Ins Bett«, und sie fügt sich wie das liebe Kind, das sie schon immer gewesen ist. Mir fällt auf, dass sie auf ihrer Seite des Bettes schläft. Immer noch lässt sie ihm viel Platz.
    »Jetzt sind sie alle weg«, sagt sie, nachdem sie den Kopf aufs Kissen hat sinken lassen.
    »Nein, das sind sie nicht, Mammy.«
    »Alle weg.«
    »Ich bin doch hier, Mammy. Soll ich mich zu dir setzen? Soll ich mich eine Weile zu dir setzen?«
    Es steht kein Stuhl im Zimmer. Ich hocke mich für einen Moment auf das Fußende des Bettes und reibe meiner Mutter durch die Tagesdecke hindurch Fuß und Knöchel.
    Hii hii , atmet sie ein wie eine Frau, die weint. Haa , atmet sie wieder aus.
    Hii hii. Haa .
    Hii hii hii. Haa .
    Und so schläft sie unruhig ein, während ich im stechenden Geruch ihres Lebens sitze: Nivea-Creme und Je Reviens und hohes Alter, dazu der Geruch meines Vaters, der in winzigen Dosen noch immer vorhanden ist, vielleicht in der versengten Wolle der Heizdecke und in dem leicht ranzigen Kleister der Tapete an den Wänden.
    Ich stelle fest, dass ich weine. Meine Mutter schläft nicht, sondern betrachtet mich. Ihre Augen, die mich über die Decken hinweg anstarren, sind jung und weit aufgerissen.
    »Entschuldigung, Mammy.« Ich stehe auf, um zu gehen.
    »Was ist?«
    »Nichts«, sage ich unter ihrem hochintelligenten Blick, der immer noch nicht richtig erkennt, wer ich bin.
    An der Tür sage ich, ohne sie anzuschauen: »Erinnerst du dich noch an einen Mann in Grannys Haus?«
    »Was für ein Mann?« Sie hat eine Frage erwartet. Aber diese behagt ihr ganz und gar nicht.
    »Kein besonderer Mann. Nur ein Mann in Grannys Haus, der uns freitags immer Süßigkeiten geschenkt hat. Wie hieß der noch gleich?«
    »Der Hauswirt?«
    »War er das?«
    »Wir haben ihn immer den Hauswirt genannt«, sagt sie. Und sie schaut mir direkt in die Augen.
    »Warum?«
    »Weil er der Hauswirt war.«
    Und plötzlich wird sie nervös, hebt die Decke hoch und schwingt die Beine über die Bettkante, und als sie sich vom Matratzenrand hochstemmt und umherzuwandern beginnt, schwabbelt ihr unleserlicher Körper unter ihrem Nachthemd hin und her. Sie geht zur Schranktür, öffnet sie und schließt sie wieder. Plötzlich macht sie kehrt und geht zurück zum Bett, dann wirft sie einen argwöhnischen Blick auf den Schrank, ob irgendetwas obenauf liegt.
    »Ich weiß nicht«, sagt sie. »Was willst du mir sagen?«
    »Nichts, Mammy.«
    »Was willst du mir sagen?«
    Ich sehe sie an.
    Ich sage, dass dein toter Sohn in dem Jahr, als du uns fortgeschickt hast, als du nicht da warst, um ihn zu trösten oder zu schützen, missbraucht worden ist und dass dieser Missbrauch ausgereicht hat, um ihn auf einen Lebensweg zu schicken, dessen Ende die Kiste unten ist. Das will ich dir sagen, falls du es wissen willst.
    »Ich hab die Süßigkeiten gemocht, Mammy. Geh jetzt zurück ins Bett. Mir sind nur die Süßigkeiten wieder eingefallen, das ist alles.«
    Denn die Liebe einer Mutter ist der größte Treppenwitz Gottes. Außerdem – wer kann schon sagen, welches die erste und welches die letzte Ursache ist?
    Das Stimmengemurmel unten in der Küche nimmt zu, und es erhebt sich ein Gelächter, gefolgt vom Knall der Hintertür. Schon wieder Kitty, die davonstürmt.
    »Ich weiß es nicht.«
    Mammy sitzt nun auf dem Bett. Inzwischen ist sie müde. Jetzt mag sie niemanden mehr.
    »Ich weiß nicht, wo sie sind«, sagt sie. »Die Sachen übers Haus. Irgendwo da oben. Auf einem Regal. Ich weiß es nicht.«
    Aber ich habe sie längst an den Schultern gefasst und drehe sie behutsam um, damit sie sich ins Bett legt.
    »Ich hol dir Bea.«
    »Ja«, sagt sie.
    »Ich hol sie dir gleich.«
    Aber ich tue es nicht.
    Ich schließe die Tür, und auf dem Gang sehe ich mich um. Ich gehe ins Schlafzimmer der älteren Mädchen, und ich schaue auf den Kleiderschränken nach und öffne die Wandschränkchen, dann komme ich wieder heraus und tue das Gleiche in meinem eigenen früheren Zimmer. Im schmuddeligen gelben Licht

Weitere Kostenlose Bücher