Das Familientreffen
Sind-wir-nicht-alle-großartig.«
Kitty geht in die Luft. »Von dem Preis deines Jacketts könnte Onkel Val einen ganzen Monat lang leben. Was hat dieses Scheißjackett überhaupt gekostet?«
»Außerdem bist du schwul, du Idiot«, sagt Jem. »Maherbeg, da fahren doch all die schwulen Männer hin, um sich in’ner Scheune zu erschießen.«
Ach, da ist das, sagt Liam. Ich fange an zu lachen und drehe mich zu ihm, um ihn zu überraschen, aber er ist nicht da. Er ist tot. Aufgebahrt im Nebenzimmer.
Plötzlich Stille, so schnell, wie eine Tür zufällt.
»Ein schönes Jackett«, sage ich.
»Danke«, sagt Ivor und versucht, aus alldem schlau zu werden. Noch nie zuvor ist er von einem Mitglied seiner Familie als »schwul« bezeichnet worden. Niemals, kein einziges Mal. Wie die Flasche mitten auf dem Tisch passiert so etwas nur bei anderen Leuten.
Mossie runzelt die Stirn und tunkt sein Gesicht in sein Glas. Von dort unten fragt er: »Was ist denn das für eine – Paul Smith?«
»Ahem...«, macht Ivor und kramt in seiner Innentasche. Als wüsste er es nicht.
Auch über Geld reden wir nicht – über die Idee, dass einer von uns, ja selbst ein Onkel, arm oder reich sein könnte oder dass es darauf ankäme. Irgendetwas ist mit dieser Familie geschehen. Der Knoten hat sich gelockert. Dann stellt Ita sich auf die Hinterbeine und zerrt an ihm.
»Ja«, sagt sie, »ein richtig schönes Jackett.«
Und schon geht’s los. Ita hat schon so lange getrunken, dass sie ganz ernüchtert ist und langsam und hitzig. Sie hat eine schreckliche Enthüllung zu machen, und ich frage mich, worin diese wohl bestehen wird. Du hast mir nie gesagt, dass ich schön bin . Oder schlimmer noch: 1973 hast du mir mein bestes Haarband gestohlen (habe ich tatsächlich). Familiensünden und Familienwunden, das endlose Herumstochern in Dingen, die wir kaum zu benennen wissen. Nichts davon wichtig, nur das Übliche: Du hast mein Leben ruiniert , oder: Und was ist mit mir? , denn bei den Hegartys ist eine Unglücksbeteuerung immer auch eine Schuldzuweisung.
»Was?«, sage ich. »Was?«
Womit ich meine: Was soll uns die Wahrheit jetzt noch nützen?
»Ich setze mich zu Liam«, sagt Ita schließlich, denn auch moralische Überlegenheit lieben die Hegartys. Sie stößt sich vom Tisch ab, sodass sie schnurstracks zur Tür hinauskann. Die will doch bloß mehr Gin, denke ich. Der großartige Abgang war nur ein Vorwand, um loszuziehen und ihre geheimen Vorräte zu plündern.
In panischem Schrecken greife ich zur Flasche und gieße mir noch ein Glas ein. Liam tippt sich an die Nase. Aber da er tot ist, muss ich es für ihn tun. So tippe ich mir an die Nase, dreimal.
»Was?«, sagt Kitty.
»Die Nase«, sage ich.
»Die was?«
»Ita. Die Nasenoperation.«
»Ach, hör doch auf«, sagt sie.
»Der Drall«, sage ich. »Der Drall.«
»Ich kann dir folgen«, sagt Ivor, der missmutig ist, weil aus seinem Haus auf dem Land nichts geworden ist.
»Wie nennt man das?«, frage ich. » Nez retroussé? «
Mossie fragt: »Wovon. Redet. Ihr. Eigentlich?«
»Von der Hegarty-Nase«, erklärt Kitty. »Ita hat sich an unserer Nase operieren lassen.«
»Ich finde«, sagt Mossie.
»Was?«
»Ich finde wirklich. Es ist ihre Nase. In dieser Phase ihres Lebens.«
Und aus irgendeinem Grund brüllen wir alle los vor Lachen.
Als sich das Gelächter gelegt hat, sitzen nur noch Kitty und Mossie da und starren einander über den Tisch hinweg an. Jetzt reicht’s, denke ich. Das Mossie-Ding beherrsche ich nicht so gut wie alle anderen. Ja, er hat uns geschlagen, Kitty. Er war fünfzehn. Er hat uns alle geschlagen.
Ich stehe auf, um zur Toilette zu gehen, und an der Tür begegne ich Bea.
Ita hat ihren Dienst bei der Leiche angetreten. Als ich an der guten Stube vorbeikomme, lehnt sie am Türpfosten, ein Glas mit zähflüssigem Wasser in der Hand. Sie weint. Vielleicht ist sie auch nur undicht. Als ich die Treppe hochsteige, dreht sie sich nicht um. Von hinten sieht sie wunderschön aus. Von hinten sieht sie aus wie Lauren Bacall.
Ich gehe ins Badezimmer, mache Pipi, wasche mir die Hände und schaue in denselben Schrankspiegel, der mein Gesicht seit gut dreißig Jahren reflektiert. An den Rändern blättert die Silberschicht ab. Wer könnte ihr einen Vorwurf daraus machen?, denke ich. Und mache kehrt, um nach unten zu gehen und wieder all den anderen gegenüberzutreten.
Als ich aus dem Badezimmer komme, steht die Tür meiner Mutter offen, nur einen Spaltbreit.
»Bea?«,
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