Das Familientreffen
mich an, als wäre ich nach alldem doch eine Fremde.
»Als du klein warst, Mammy. Wo hast du gewohnt, als du klein warst?«
»Um die Ecke«, sagt sie und ist über diese Tatsache betrübt. »Ich glaube, wir haben um die Ecke gewohnt.«
Die Vergangenheit ist kein fröhlicher Ort. Und der Schmerz, der mit ihr einhergeht, gehört eher meiner Mutter an als mir, denke ich. Wer bin ich, dass ich die Vergangenheit für mich beanspruche? Meine arme Mutter hatte zwölf Kinder. Immer wieder musste sie die Zukunft zur Welt bringen. Ein ums andere Mal. Zwölfmal Zukunft. Noch öfter. Vielleicht gefiel es ihr ja, all diese Kinder zu kriegen. Vielleicht verfügt sie über mehr Vergangenheit, die sie abstreifen muss, als die meisten Menschen.
Die Briefe, die ich gefunden habe, sind auf blauem Schreibpapier verfasst, mit dem Wappen von Basildon Bond als Wasserzeichen. Insgesamt gibt es etwa fünfzehn davon, alle mit L. Nugent oder Lambert Nugent unterschrieben, jeder banaler als der vorhergehende. Es gibt Lücken und Auslassungen, in die ich Wut oder Verlangen hineinlese. Das sieht mir ähnlich, das ist mein Geschäft, und trotzdem bleiben sie verblüffend stumm.
Liebe Mrs Spillane,
ich fürchte, was die sechs Shilling betrifft, die Sie mir seit vergangenem Ostern schulden, kann ich Ihnen keinen Mietnachlass gewähren. Die Arbeiten, die Sie an der Scheuerleiste in der Diele haben vornehmen lassen, sind ohne vorherige Rücksprache ausgeführt worden und können nicht als Sachleistung gelten. Wenn die nächste Mietzahlung fällig ist, rechne ich mit dem vollen Betrag.
Mit freundlichen Grüßen
Lambert Nugent
Liebe Mrs Spillane,
glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich Ihre besten Interessen im Sinn habe, was die rückwärtige Garage anbelangt, die ohnehin auf das hintere Gässchen hinausgeht.
Mit freundlichen Grüßen
Lambert Nugent
Liebe Mrs Spillane,
Sie wissen genau, was ich meine. Ich meine, dass Weihnachten unter den allgemeinen Gegebenheiten, um die es in dieser Angelegenheit so bestellt ist wie immer, nichts zu bedeuten hatte.
Am Dienstag kommt der Handwerker wegen des Wasserbehälters, und ich werde ihn selbst bezahlen.
Mit den besten Grüßen an Ihren Mann, Mr Spillane
Ihr
L. Nugent
Liebe Mrs Spillane,
was die sieben Shilling sechs Pence betrifft, könnte es durchaus sein, dass Ihr Mann sie nach dem 5. beisammenhaben wird. Allerdings möchte ich sie noch am selben Tag erhalten.
Ihr
L. Nugent
Liebe Mrs Spillane,
was Sie da in der Frage des Mietverhältnisses anstreben, kann ich Ihnen nicht zugestehen. Mit der Untervermietung an Mrs McEvoy verstoßen Sie gegen sämtliche Vereinbarungen in dieser Angelegenheit, und wie Sie leicht feststellen können, bin ich durchaus berechtigt, eine Mieterhöhung vorzunehmen oder mir einen anderen Mieter zu suchen, was ich, wie Sie wissen, nur sehr ungern tue. Ich mache lediglich meine Rechte geltend.
In der Hoffnung, auch weiterhin ein Übereinkommen zu erzielen, das allen Beteiligten entgegenkommt
Ihr
Lambert Nugent
Liebe Mrs Spillane,
anbei die Quittung für die Zimmerdecke in der Abstellkammer.
Ihr
LN
Liebe Mrs Spillane,
mein Sohn hat mir erzählt, dass Sie wegen Ihrer Gesundheit Grund zur Sorge hatten, und ich möchte Ihnen meine allerbesten und guten Wünsche für eine rasche Genesung zukommen lassen. Am Freitag werde ich nicht Nat zu Ihnen schicken, sondern, wenn ich darf, selbst kommen.
Mit freundlichen Grüßen
Lambert Nugent
Dabei war es Nugent, der schließlich als Erster starb.
Wie mir scheint, handelte es sich um eine Beziehung von plötzlichem Groll und kleinherziger Grausamkeit. Vielleicht irre ich mich – vielleicht war es auch nur der Ton, in dem Hauswirte mit ihren Mietern verkehrten. Aber das Ganze hatte auch etwas von Leibeigenschaft: dass Nugent hinter dem Haus in einer Garage werkelte, die ihm gehörte, dann ums Haus herum zu einer Vordertür ging, die ihm ebenfalls gehörte, und dort anklopfte. Insofern war das Ritual aus Tee und Keksen, was ihn anbelangte, ein brutal unerhebliches und Ada so bezaubernd – Sie könnten auch sagen: so sexy -, wie sie es nur sein konnte, denn so sind Frauen, die sich in die Defensive gedrängt sehen, nun einmal. Achtunddreißig Jahre lang so und so viele Shilling die Woche, ihr ganzes Leben in seine Hand geträufelt. Achtunddreißig Jahre lang verwirrte sie ihn mit ihren weiblichen Reizen, während er dasaß, diese hinnahm und genoss, da er der Meinung war, dass ihm nichts
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