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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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als triebe er Schafe durch ein Gatter, aber ich weiß nicht, ob er uns jemals bis vor das Kommuniongitter gefolgt ist. Mein Vater ging in seiner offiziellen Funktion als Vater in die Kirche. Wollte ich nach seinem persönlichen Glauben Ausschau halten, ich wüsste nicht, wo ich beginnen sollte oder welchem Körperteil dieser innewohnte.
    Bei Liams Tauerfeier muss ich an ihn denken. Am Altar steht Ernest im Priestergewand. Die Stickerei auf der Vorderseite weist ein Maya-Muster auf, und er wirkt sehr ansehnlich.
    Die an Zahl abnehmenden Hegartys sitzen dem Alter nach in der ersten Reihe. Ernest weist uns alle zu beten an, und ich falte die pummeligen Hände meines Vaters, führe sie an seine Lippen und spreche in seinem Tonfall: »O Herr.« Aber die Worte entbehren jeder Überzeugung – will sagen: seiner Überzeugung. Mein Vater war nie fromm, und ich glaube nicht, dass er sich vor den Höllenqualen fürchtete – wenn er also den Sex hatte, der zwölf Kinder und sieben Fehlgeburten hervorbrachte, die im Körper meiner Mutter (welche jetzt am Ende der Reihe niederkniet) heranwuchsen, so war es nichts anderes als genau das: Er hatte Sex. Es hatte nichts damit zu schaffen, was die Priester ihm sagten oder nicht sagten, es war einfach etwas, das er tun musste oder tun wollte, etwas, das ihm seiner Meinung nach zukam.
    Er liebte meine Mutter. Diese widerwärtige Tatsache ist nicht wegzuleugnen – die Tatsache, dass mein Vater meine Mutter liebte. Aber er liebte sie nicht innig genug, um sie in Ruhe zu lassen. Nein. Ich vermute, mein Vater hatte Sex so, wie seine Kinder sich betrinken – das heißt wider besseres Wissen: nicht um der Lust willen, die es ihm bereitete, als vielmehr, um allem Einhalt zu gebieten.
    Auf andere Weise wird mir der Antrieb nicht verständlich, mit dem das Kind gezeugt wurde, das jetzt in diesem Sarg mitten im Gang liegt. Denn in seiner Kiste ist Liam wieder ein Junge. Den Sarg füllt er höchstens zu drei Vierteln aus. Die Jahre fallen von ihm ab. Die Jahre werden umgewandelt, bis er die letzten davon wie Wasser abschlägt. Er steht, neun Jahre alt, am Geländer vor dem Basin in Broadstone.
    Wuuiii!
    Sämtliche Hegarty-Kinder haben einen Kater, einschließlich des Kindes in der Kiste. Es ist ein sehr friedvolles, kostbares Gefühl, ein Anschwellen der Sinne zwischen Wärme und Schmerz. Liam hat den schwersten Kater von allen, natürlich, denn am Ende war er wirklich sternhagelvoll. Liam war blau wie ein Veilchen. Ziemlich angeschlagen. Jetzt kann er seinen Rausch erst einmal ausschlafen.
    Mammy am Ende der Reihe ist vor lauter Süße und Schmerz ganz durchsichtig. Neben ihr steht Bea, die in offizieller Funktion zur Kirche geht, so wie früher Daddy. Als Nächstes kommt Mossie, der die Responsorien deutlich artikuliert. Wir anderen murmeln etwas daher oder schweigen. Links von mir steht Kitty, zusammengekauert und inbrünstig (aber inbrünstig wofür?, das ist die Frage), während Ita, rechts von mir, sitzen bleibt, ein Gemüt von Stein.
    Ich bemühe mich, an etwas zu glauben, einfach nur so. Ich greife mir etwas Absolutes aus der Luft, einen dehnbaren Gedanken, der sich in meinem Kopf entfalten wird wie Äther – Gott oder die Zukunft oder das übergeordnete Wohl. Ich neige den Kopf und bemühe mich, daran zu glauben, dass die Liebe es besser machen wird, oder wenn nicht die Liebe, dann die Kinder. Von dieser hohen Warte wende ich mich den Niederungen zu und glaube jeweils viele Sekunden lang an die Geringfügigkeit und die Notwendigkeit des Mutterseins.
    Aber für eine Hegarty ist das alles ein bisschen zu schlicht. Der Glaube bedarf des Schreckens, damit er verfängt, finde ich – Blut, Nägel, Seelenqualen.
    So versuche ich es mit Seelenqualen. Ich betrachte Liams Sarg und bemühe mich, an die Liebe zu glauben.
    Nicht leicht.
    An die Liebe Gottes kann ich mich noch erinnern, in jenem Jahr in Adas Haus, als ich acht war und Liam neun. Ich erinnere mich sehr deutlich. Schwester Benedict ermahnte uns, Jesus »in unser Herz« aufzunehmen, und genau das tat ich ohne Umschweife. Jetzt prüfe ich mein Herz und stelle fest, dass ihm noch immer ein Gefühl innewohnt, das Gefühl von etwas Heißem und Zappelndem. Unter meinen geschlossenen Lidern verdrehe ich die Augen und habe das Gefühl, dass mitten auf meiner Stirn etwas aufgeht. Der Druck auf der Brust ist wie ein Kampf um Worte, und meine Stirn ist rein und leer, so wie es einem ergeht, wenn alle Worte gesprochen sind.
    Na also.
    Glaube.

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