Das Familientreffen
Geschehnis, und denke, na schön, das erklärt einiges. Ich füge es dem Leben meines Bruders hinzu, und es ist von entscheidender Bedeutung. Hier treffen alle Ursache und alle Wirkung zusammen, es ist die Krux seines Lebens. In gewisser Weise erklärt es zu viel.
Dies sind die Dinge, die ich tatsächlich weiß.
Ich weiß, dass mein Bruder Liam von Lambert Nugent sexuell missbraucht wurde. Oder sehr wahrscheinlich von Lambert Nugent sexuell missbraucht wurde.
Dies sind die Dinge, die ich nicht weiß: dass ich von Lambert Nugent berührt wurde, dass mein Onkel Brendan von ihm in den Wahnsinn getrieben wurde, dass meine Mutter von ihm dumm gemacht wurde, dass meine Tante Rose und meine Schwester Kitty heil davongekommen sind. Kurz und gut, ich weiß nichts über Lambert Nugent, nicht, wer er war und wie Ada ihn kennengelernt hatte, nicht, was er getan oder nicht getan hatte.
Ich weiß, er könnte die Erklärung für unser aller Leben sein, und ich weiß etwas noch Erschreckenderes – dass wir nicht erst von ihm beschädigt werden mussten, um beschädigt zu sein. Die Luft, die er atmete, genügte schon. Es genügte schon, dass wir seine verbrauchte Luft atmen mussten.
Hier bin ich wieder in St. Dympna’s und habe Tinte auf der Zunge. Liam schläft nicht mehr bei mir. Ich trage meinen Slip im Bett. Dann stehe ich auf und schlüpfe in meine Strumpfhose. Dann stehe ich auf und ziehe meine Schulbluse an; es ist wichtig, fertig zu sein, wenn es so weit ist. Dann stehe ich auf und hänge meinen Trägerrock über die Stuhllehne. Stelle meine Schuhe unter den Stuhl und drehe das ganze Arrangement zur Tür hin, damit ich mich, wenn ich mich ankleide, nicht umdrehen muss, um das Zimmer zu verlassen. Dann stehe ich auf, falte meine Schärpe und stecke sie in den rechten Schuh, sodass das Ende über den Fußboden schleift. Dann stehe ich auf und ziehe den Trägerrock an, und danach schlafe ich ein.
In der Schule rieche ich übermüdet. Die Tollfalten meines Trägerrocks sind völlig zerknittert. Ich kann das Gefühl der Laken nicht abschütteln – Geisterlaken, die sich, wenn mein Körper sich im Bett hin und her wälzt, an meinem Trägerrock reiben und scheuern. Liam schläft auf der anderen Seite des Zimmers, Kitty neben mir. Vor mir bringt Schwester Benedict uns bei, wie man betet:
Der Abend kommt, die Sonne sich bedecket,
Und alles sich zu Ruh und Stille strecket.
O meine Seel’, merk auf! Wo bleibest du?
In Gottes Schoß, sonst nirgends find’st du Ruh.
33
»Wenn die Jungfrau Maria leiblich in den Himmel aufgefahren ist, wo geht sie dann auf die Toilette?«
»Was hast du da gesagt?« Daddy schaut mich an.
»Wenn die Jungfrau Maria leiblich in den Himmel aufgefahren ist, wo geht sie dann auf die Toilette?«, und noch bevor ich sehe, wie sich seine Hand bewegt, hat mein Vater auch schon zugeschlagen.
Das war, kurz nachdem wir von Ada zurückgekommen waren, als ich mich auf dem Höhepunkt meiner religiösen Phase befand.
Ich erinnere mich noch daran, denn obwohl mein Vater seine Kinder mehr oder weniger die ganze Zeit über schlug, war es doch nichts Persönliches. Vielleicht schlug er drei auf einen Streich und ließ den Vierten ungeschoren, oder er stampfte mit erhobener Hand mitten unter uns umher, während wir kreischend davonrannten. Bei den Jungen war’s natürlich etwas anderes, in der Hauptsache aber schlug uns mein Vater nicht etwa deshalb, weil er Herr der Lage war, sondern weil wir Herr der Lage waren. Deswegen habe ich auch kein Verständnis dafür, wenn Kitty anfängt, mit Beschuldigungen über Ohrfeigen um sich zu werfen.
Aber patsch!, das Geräusch aller Geräusche, das sich schmatzend von der Wange löst, eine taube Stille, die nach einer Weile von schallendem Schmerz durchschnitten wird.
Allerdings war die Frage es beinahe wert – ist sie doch das einzige Beweisstück, das ich dafür habe, dass unser Vater Katholik war. Unsere Mammy ist natürlich gläubig, so wie Mammys es nun einmal sind, aber rund vierzehn Jahre lang saß ich jeden Sonntagvormittag neben oder hinter meinem Vater auf einer hölzernen Kirchenbank, und während all dieser Zeit habe ich nie gesehen, dass er seine Lippen bewegt hätte. Ich habe ihn nie laut beten hören oder den Kopf neigen oder irgendetwas tun sehen, das für ungewöhnlich gehalten worden wäre, hätte er auf dem Oberdeck eines Busses gesessen. Wenn es Zeit für die Kommunion war, stellte er sich am Ende der Bank auf, und wir marschierten an ihm vorbei,
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