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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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Die Biologie dafür habe ich. Jetzt brauche ich nur noch das Zeug, das man hineintut. Jetzt brauche ich nur noch die Worte.
     
    Nachdem Daddy mir die Ohrfeige verpasst hatte, drehte er sich um und ging in völligem Schweigen davon. Vielleicht war er schockiert über sich selbst. Ich jedenfalls war schockiert über ihn. Aber in Wahrheit glaubte ich damals gar nicht an den Himmel und würde es nie tun. Und wenn ich an die Hölle dachte, war es einfach nur totenstill.

34
    Hier ist Ada, sie sitzt in der guten Stube in Broadstone auf dem Sofa, mit einer Näharbeit in den Händen, eine einfache Arbeit, vielleicht will sie etwas säumen oder stopfen. Ein achtjähriges Mädchen hält sich im Zimmer auf, das bin ich.
    Ich erinnere mich noch an die Krümmung ihres Rückens, an ihre Hände, die sie in den Schoß hat sinken lassen, an die Auf- und Abwärtsbewegung ihrer Finger, als sie den Faden durch den Stoff fädelt. Das Sofa hinter ihr ist dunkelrot und mit einem Berg von Kissen bedeckt, doch Ada lehnt sich nicht in sie zurück. Die beiden türkischen Wulstkissen mit Quasten an den Enden, vom Bühnenbild irgendeines Serails im Gate Theatre, ein rundes rotes Samtkissen mit loser Smokarbeit um den Rand wie das Reifenprofil eines fabelhaften Autos aus Stoff, eine Reihe kleiner Keilkissen, deren Bezug aus Metallfäden in violetten und braunen Riefelungen gefertigt ist, die Borke an den Bäumen eines Theaterwaldes.
    So sitzt sie vor all diesen Kissen und beugt sich leicht über ihre Näharbeit. Mitunter hebt sie den Kopf, um den richtigen Abstand zu wahren, wie das Alter ihn erfordert. Aber mir kommt sie nicht alt vor. Sie wirkt zufrieden, wie aus einem Guss. Sie ist ganz sie selbst. Ich gehe zu ihr, um mich neben sie zu setzen, und sie nickt mir flüchtig zu – und als sie diesen Nähstich oder jenen Stopfstich beendet hat, streckt sie, ohne aufzuschauen, die Hand aus und reibt ihre Fingerknöchel an meinem Kinn.
    »Hallo.«
    Daran erinnere ich mich.
    Niemand ging, und niemand kam. Charlie war woanders, Mr Nugent war gleichgültig, Liam und Kitty erledigten vermutlich am Esszimmertisch ihre Hausaufgaben, und ich hielt mich mit Ada in ihrem Schrein, der guten Stube, auf: die rotsamtenen Theatervorhänge, die auf die Straße gingen, die signierten Fotos an der Wand, Jimmy O’Dea, die Adare Sisters, die mit »Othello« unterschriebene Zeichnung eines Mannes mit braunem Gesicht und einem eleganten spitzen Schuh. Sie alle waren Figuren in einem Stück, das anderswo gegeben wurde. Und hier, hinter der Bühne, war der Ort, wo man sich aufhalten musste, bei Ada, die keine andere sein konnte, selbst wenn sie es versucht hätte, die mit vollkommener Höflichkeit durchs Leben schritt, ruhig, bisweilen etwas barsch – obwohl sie sich nie anmerken ließ, wie barsch sie sein konnte. Dort sitzt sie nun, Ada, ruht selig in sich selbst und näht. Ihre Vergangenheit liegt hinter ihr, ihre Zukunft ist kaum von Bedeutung. Sie bewegt sich aufs Grab zu, in selbst gewähltem Tempo.
    Und ich, einen Moment lang überrascht von dem Anblick des Stoffes in ihrem Schoß, schaue mir noch einen weiteren Stich an, vielleicht zwei, bevor ich aufstehe und aus dem Zimmer renne.

35
    Die Mietbücher setzen erst im Jahre 1937 ein – was mir flüchtig die Vorstellung eingibt, dass das Haus früher einmal Charlie gehört hatte, der es jedoch bei einer Pferdewette an Nugent verlor. Ich bezweifle, dass dem wirklich so war, aber das Nachbild hält sich noch immer: Charlie draußen in Leopardstown, an der Absperrung umflattert ihn Nugent wie eine Krähe, und seine Mantelschöße wehen in der Brise.
    »Hier, bitte«, sagt Charlie in verzweifelt unbekümmertem Ton und reicht dem Mann, der seine Frau besser oder zumindest wacher liebt als er selbst, den letzten Wettzettel.
    »Nase voran.«
    Aber Nugent sah gar nicht aus wie eine Krähe, er sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Mann. Daran erinnere ich mich noch, obwohl ich mir mit Bestimmtheit nur eines ins Gedächtnis zurückrufen kann: den eigenartigen Auswuchs in seinem Ohr, eine vollkommene kleine Knolle von leuchtendem Rosa, und die Art, wie er sich freitags in der guten Stube im Ohrensessel zurücklehnte.
     
    Eines Samstags bringe ich die Mädchen zu meiner Mutter, wie ich es seit Liams Tod zu tun pflege, und frage sie in ganz gewöhnlichem Ton, wo sie zuerst gewohnt hat, vor Broadstone, in was für einem Haus sie gelebt haben, bevor sie in das Haus umzogen, das ich kannte.
    »Wie bitte?«, fragt sie und sieht

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