Das Feenorakel
zweitens wusste sie nicht, wie sie ihre Frage hätte erklären sollen.
Beunruhigt ging sie noch eine ganze Weile im Zimmer auf und ab. Wenn er ihrer Fantasie entsprungen war, was hatte es dann mit seiner Frage nach den Feen auf sich?
Sie hatte sich schon oft gefragt, woher ihre Fähigkeit kam, Pflanzen hören zu können. Hatte sie sich nicht bereits fremd und anders gefühlt, bevor die weißen Träume begannen?
Wenn es Julen wirklich gab, dann stammte er womöglich selbst aus einer Welt, von der man nur aus Märchen und Mythen wusste. Dies zumindest würde sein Verschwinden ebenso erklären wie sein plötzliches Auftauchen. Er war ganz sicher hier gewesen. Dort stand ja auch sein Glas! Angerührt hatte er es zwar nicht, aber wäre sie eher darauf gekommen, hätte sie bestimmt noch seine Körperwärme spüren können auf dem Stuhl, auf dem er ihr gegenübergesessen hatte. Jetzt allerdings war das glatte Holz kalt und verriet nicht, wer zuletzt auf ihm gesessen hatte. Ein Geist oder ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Alva ahnte, dass die Antworten tief in ihrem Inneren verborgen lagen. Sie hatte das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um einen Teil ihres Bewusstseins zu öffnen, der sich ihr auf geheimnisvolle Weise verschlossen zu haben schien. Julen konnte ihr dabei helfen, davon war sie überzeugt.
Erschöpft legte sie sich schließlich ins Bett, doch der Schlaf wollte nicht kommen, und sie warf sich immer noch hin und her, als die Glocken der nahen Kirche zur Mittagsandacht riefen. Nur die Hand musste sie ausstrecken ... doch in welche Richtung?
Du wirst dich zur rechten Zeit erinnern.
Alva setzte sich alarmiert auf. Diese Stimme kannte sie. Aber woher?
Ich bin der Schlüssel zu deiner Welt , sagte die körperlose Stimme und klang erstaunlicherweise kein bisschen pathetisch, sondern eher ironisch, als würde sie sich selbst nicht ganz ernst nehmen. Schlaf, Alva! Dann summte sie ein Wiegenlied, das ihre unsichtbare Begleiterin aus Kindertagen immer gesungen hatte, wenn das kleine Mädchen sich vor den Schatten der Nacht geängstigt hatte.
Weht, ihr holden Düfte
bunter Blumendolden,
wehe, Blütenduft der Linde,
meines Kindleins Augen zu.
Abendwinde, flüstert leise,
flüstert leise meinem Kinde:
Schlaf in Ruh
…
[2. Strophe
Melodie: Wilhelm Taubert (1811–1891), Nr. 7 aus Klänge aus der Kinderwelt op. 68
Text: Wilhelm Wackernagel (1806–1869)]
«Wer bist du?», flüsterte Alva und schlief ein.
Kapitel 6
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Alva übte Songs, zerbrach sich zwischendurch den Kopf darüber, was sie bei ihrem Auftritt anziehen sollte, und konnte obendrein nicht aufhören, über die Andeutungen ihres geheimnisvollen Besuchers nachzudenken. Zu gern hätte sie ihn gefragt, ob er wirklich an Feen glaubte, aber er ließ sich nicht mehr blicken und allmählich glaubte sie ganz sicher, dass ihre Begegnung ein Produkt ihrer überspannten Fantasie gewesen war. Sexy wie die Sünde selbst und dazu noch einfühlsam? Träum weiter, Gänschen! Jemanden wie Julen konnte es im wahren Leben gar nicht geben. Er war eben doch nur ein Traummann .
Und trotzdem … Alva hatte ansonsten nicht das Gefühl, verrückt zu werden. Irgendjemand hätte doch sicherlich auch versucht, sie zum Arzt zu schicken, oder? Cathy zu fragen traute sie sich aber auch nicht. Was hätte sie sagen sollen? Erinnerst du dich an diesen wahnsinnig gut aussehenden Mann, der mich begleitet hat? Wie peinlich wäre es gewesen, wenn Cathy nicht gewusst hätte, wovon sie sprach.
Tom zumindest hatte ziemlich ratlos reagiert auf ihre vorsichtigen Versuche mehr herauszufinden. Was wiederum kein allzu großes Wunder war, denn er konnte sich an den Streit, und damit auch an Julens Eingreifen, nicht erinnern. Für seine schlechte Laune hatte er sich jedenfalls entschuldigt und niemand in der Band nahm es ihm besonders übel, schließlich hatte ihn seine Freundin unter einem miesen Vorwand verlassen. So sah es jedenfalls inzwischen aus, denn als Chris sie eines Abends getroffen hatte, war sie nicht allein, und der Mann in ihrer Begleitung hatte sich ziemlich besitzergreifend verhalten.
«Der Kerl sah aus wie ein Mafiosi.» Chris hatte Mandy offenbar nie besonders gemocht, aber nun war sie wirklich wütend. «Alles Schlechte hat sie uns für den Auftritt gewünscht, die Zicke!», vertraute sie Alva an. «Am liebsten hätte ich ihr die falschen Haare ausgerissen. Ich hoffe, dass sie mit ihren großen Plänen richtig schön auf
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