Das Feenorakel
Haltegriff fest, denn schon auf den ersten Metern wurde deutlich, dass Alastair einen zügigen Fahrstil bevorzugte.
Nachdem sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah sie sich staunend um. Hinter dem Fahrer führte eine geschwungene Treppe in die obere Etage. Unten waren die ersten Sitzreihen unverändert geblieben. Dahinter hatte jemand allerdings eine Wand eingezogen, vor der sie etwas entdeckte, das aussah wie eine Wohnmobil-Einbauküche. Daneben gab es eine schmale Tür. Die hinteren Scheiben des Busses waren komplett undurchsichtig und Alva vermutete, dass sich hinter der Wand Stauraum für Instrumente und Technik befand. Weil sie die Anlage der Midnight Fairytales mitbenutzen durften, war dort wahrscheinlich noch viel freier Platz.
Alastair nahm eine lang gezogene Kurve ziemlich schnell und Alva gab vor Schreck einen kleinen Schrei von sich. Er grinste und zeigte mit dem Daumen nach oben. «Mach es dir bequem, Mädchen», sagte er in einer schauerlichen Imitation eines schottischen Akzents.
«Sieh du lieber nach vorn.» Alva lachte, als sie die Treppe zu den anderen hinaufstieg. «Das ist toll!» Im vorderen Teil waren bequeme Sitze eingebaut, man konnte sogar die Füße hochlegen. Die Fenster des hinteren Teils waren ebenfalls verdunkelt, doch trotz des Halbdunkels erkannte sie eine große Liegefläche und weiteren Stauraum. Leicht gebückt und bemüht, das Schlingern des Busses auszugleichen, ging sie zu ihren Freunden nach vorn und ließ sich in den letzten freien Sitz fallen.
«Fantastisch, oder?» Tom sah sie erwartungsvoll an. Er war nicht einmal verkatert.
Stefan reichte ihr eine Flasche Wasser. «Du musst viel trinken.» Dann lachte er. «Und du musst ihm ein Kompliment machen. Tom und Alastair haben sich mit dem Umbau wirklich selbst übertroffen. Und das in der kurzen Zeit.»
Alva zögerte nicht. Sie stand auf und umarmte Tom. «Du bist der beste Bruder!»
«... den du hast!», ergänzte Stefan zynisch.
Um keinen Streit aufkommen zu lassen, tat sie, als hätte sie die Bemerkung nicht gehört. Längst nahm sie ihrem Bruder die Schwindeleien und Launen nicht mehr übel. Bei Tageslicht betrachtet passte es recht gut zu seinem Charakter. Er hatte immer schon versucht, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Etwas, das ihren Vater, also seinen Stiefvater, regelmäßig auf die Palme gebracht hatte.
Schnell drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange, verlor in der nächsten Kurve das Gleichgewicht und landete hart in ihrem Sitz. «Aber wer ist bloß auf die Idee gekommen, ausgerechnet Alastair als Fahrer zu engagieren?»
«Alles hat seinen Preis.» Seit Tagen war es das erste Mal, dass sie Tom wieder lachen sah.
Die Fahrt dauerte nicht allzu lange und nach weniger als zwei Stunden hatten sie ihr Ziel erreicht. Alva war insgeheim dankbar, dass sich der Club, in dem sie heute Abend spielen würden, nicht mitten in der Stadt befand, sondern ebenfalls auf einem zum Kulturzentrum umgewandelten Fabrikgelände. Ohne Laternenpfähle, Straßenschilder oder andere Hindernisse umzureißen, hielt der Bus derart dicht vor dem Hintereingang eines unauffälligen Backsteingebäudes, dass sie von ihrem Platz aus genau in die Regenrinne sehen konnten.
Alva hätte große Lust gehabt, einmal aufs Dach zu steigen, aber weil es hier oben keinen Ausstieg gab, folgte sie den anderen. Kaum hatte sie den Asphalt betreten, erklang eine laute Hupe. Erschrocken sah sie sich um.
«Na super, Rule Britannia! als Riesenklingelton.» Sie zeigte Alastair einen Vogel, aber der lachte nur und sah gespannt zu, wie ein Lastwagen auf den Hof fuhr und rangierte, bis er mit dem hinteren Teil ebenfalls zum Bühneneingang stand. «Der Mann weiß einen Truck zu fahren!», murmelte er und stieg aus, um die technische Crew der Fairytales zu begrüßen.
Drei Männer sprangen aus dem Lastwagen und bewunderten als Erstes den Bus. Sie wollten alles ganz genau sehen und Tom zeigte ihnen stolz auch das Innere des exotischen Gefährts, während Alastair und Stefan sich mehr für das Equipment der Kollegen zu interessieren schienen.
Einer der Männer stellte sich als der Tourmanager vor. Es wurde schnell klar, dass er und Stefan sich gut kannten und es ihrer Freundschaft zu verdanken war, dass One More Thing ... mit den Chart-Stürmern Midnight Fairytales auftreten durften.
Die ungewöhnliche Hupe war nicht unbemerkt geblieben. Eine junge Frau kam um die Ecke, begrüßte sie freundlich und schloss die beiden Stahltüren des Bühneneingangs
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