Das Feenorakel
Augenblick nichts abschlagen können.
«Machen wir es kurz: Ich habe den Auftrag, auf dich achtzugeben.» Von seinem viel gerühmten Charme war bedauerlich wenig übriggeblieben. Sofort tat es ihm leid, auf diese Weise geradeheraus gesprochen zu haben.
Sie stellte ihr Glas ab, aus dem sie hatte trinken wollen, und setzte sich kerzengerade auf. «Stecken etwa meine Eltern dahinter?»
Diese Frage konnte er nicht ohne Weiteres beantworten. Wenn sie wirklich, wie er inzwischen sicher glaubte, unter dem Schutz eines Bewohners der Feenwelt stand, dann war es höchstwahrscheinlich ihre leibliche Mutter gewesen, die Kieran darum gebeten hatte, ihr Kind zu beschützen. Doch Alvas Frage bezog sich selbstverständlich auf ihre sterblichen Adoptiveltern und deshalb schüttelte er den Kopf. «Ich weiß es nicht.»
«Bist du ein Auftragskiller?»
Beinahe hätte er sich verschluckt. Wie kam sie nur darauf? «Wohl kaum. Ansonsten wärst du nicht mehr am Leben, meinst du nicht auch?» Einem Impuls folgend berührte er ihre Hand und war froh, als sie nicht zurückzuckte. «Ich weiß, das klingt jetzt idiotisch, aber hast du dich in letzter Zeit mal merkwürdig gefühlt?»
Ihr Lachen brachte ihn etwas aus der Fassung.
«Einmal?» Sie legte ihre Hand auf den Mund und sprach dann leise weiter. «Schon mein ganzes Leben lang!» Dabei sah sie ihn unmittelbar an.
An der kurzen Veränderung ihrer Pupillen konnte er den exakten Moment erkennen, als sie begriff, dass seine Frage ernst gemeint war.
«Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle. Vielleicht, weil du der Erste bist, der mich danach fragt.» Sie fuhr mit dem Handrücken über die Nase.
Julen fand dieses Zeichen ihrer Unsicherheit hinreißend. Ich bin verloren! Am liebsten wäre er aufgesprungen und geflüchtet. Ganz weit weg. Mindestens bis ans andere Ende der Welt.
Ahnungslos sprach sie weiter: «Angefangen hat es vor mehr als zwei Jahren. Ich hatte eigentlich gedacht, die schlimmste Zeit läge hinter mir. Du weißt schon, Pubertät und so ...»
Julen grinste mitfühlend. Diese Phase seines Lebens lag zwar schon länger zurück, als sie sich jemals würde vorstellen können, ihm kam es allerdings manchmal vor, als wäre es erst gestern gewesen.
Sie wurde rot. «Na ja, ich war wirklich kein Kind mehr. Und dann kamen auf einmal diese Stimmungsschwankungen. Himmel, wie peinlich!»
«Wieso sollte dir irgendetwas peinlich sein? Also, die Stimmungsschwankungen meine ich», fügte er hinzu.
Sie überlegte eine Weile und nahm schließlich den Faden wieder auf. «Ich weiß es nicht. Aber dieses Gefühl, als ob ich plötzlich nicht mehr dazugehörte, das war schrecklich. Es ist schwer zu erklären. Ich kam mir wie ein andersartiges Wesen vor, kein Tier, aber auch kein Mensch ... irgendetwas Fremdes, Magisches. Das ist doch krank! Im Internet habe ich auch nichts darüber gefunden.» Sie atmete heftig aus. «Ich bin sogar freiwillig zu einer Psychologin gegangen. Vielleicht hätte ich ihr nicht sagen sollen, dass ihre Grünpflanzen sich bei mir darüber beschwert haben, dass sie die heimlich gerauchten Zigaretten im Blumentopf ausdrückt. Jedenfalls war es ein kurzes Intermezzo. Und hätte mein Vater nicht eingegriffen, hätte sie mich wahrscheinlich einweisen lassen.» Ein bisschen zusammenhanglos sprach sie nach einer kurzen Pause weiter. «Weißt du, eigentlich wollte ich Gärtnerin werden oder Landschaftsgestalter, wie meine Stiefmutter. Ich habe sogar einen Praktikumsplatz bekommen, aber ich konnte das Elend der Pflanzen einfach nicht ertragen. Es ist schrecklich für sie, in einer solchen Zuchtanlage aufzuwachsen.»
Sie hatte die ganze Zeit auf ihre Hände gesehen, die ungeachtet ihrer berührenden Worte ruhig vor ihr auf dem Tisch lagen. Jetzt blickte sie auf und schien zu erwarten, dass er sie auslachte. «Bin ich verrückt?»
Bestimmt nicht mehr als ich. Julen musste schlucken, als er die Tränen in ihren Augen glitzern sah, und traf eine Entscheidung. «Bist du nicht. Es gibt vieles auf dieser Erde, was die meisten Menschen nicht begreifen können. Dazu gehören auch Wesen, die sich der Natur auf ganz besondere Weise verbunden fühlen, und das ist wahrlich keine Schande. Im Gegenteil. Jetzt darfst du gern mich für verrückt halten, aber hast du schon einmal überlegt, was wäre, wenn du deine Gaben einer Vorfahrin aus der Feenwelt zu verdanken hättest?»
Alva goss sich Mineralwasser nach und trank. «Du willst mich auf den Arm nehmen.» Doch sie klang unsicher,
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