Das Feenorakel
sang passenderweise die Violetta in La Traviata und wirkte dabei so überzeugend, dass Julen sich vornahm, ihr noch eine Chance zu geben. Er war gewiss nicht der Einzige, dem zum Schluss Tränen in den Augen standen. Tatsächlich verriet ihm ein Blick hinab ins Parkett, dass mindestens ein Drittel aller Zuschauer ein Taschentuch in der Hand hielt. Auch der Alfredo, übrigens der Besucher in ihrer Garderobe, zeigte eine beachtliche Leistung. Zu Recht wurde er am Ende entsprechend mit Applaus bedacht. Doch als die Sirene die Bühne betrat, schrie und trampelte das Publikum, sprang auf und einige Zuschauer gingen sogar so weit, auf die Sitze zu steigen, um ihrem Ruf nach einer Zugabe besser Gehör zu verschaffen.
Doch nichts davon beunruhigte Julen, denn was er insgeheim befürchtet hatte, war nicht eingetroffen. Seine Mutter hatte keine sexuelle Raserei ausgelöst, niemand versuchte die Bühne zu erklimmen, um sich ihr zu Füßen zu werfen, wie er es in früheren Zeiten miterlebt hatte. Entweder war das Publikum heutzutage beherrschter und weniger theatralisch oder sie hatte endlich verstanden, den schmalen Grad zwischen ihrer betörenden Anziehungskraft und der Vernunft zu meistern.
Vielleicht, überlegte er, wäre sie sogar eine gute Lehrerin für Alva, deren Sirenenkräfte – davon war er überzeugt – sich gerade erst zu entfalten begannen.
Vor unwillkommenen Verehrern würde er das Mädchen selbstverständlich schützen können, solange er den Auftrag dafür hatte. Sein Vater hatte in früheren Jahren nichts anderes getan, vielleicht war aber genau dies ein Fehler gewesen. Hätte er seiner geliebten Sirene die Chance gegeben, sich an eine veränderte Welt anzupassen, wäre ihr dies zweifellos viel eher gelungen. Wenn Julen an irgendetwas keinen Zweifel hatte, dann war es die Liebe, die seine Eltern verbunden hatte.
Das Theaterleben war ihm nicht fremd, deshalb ließ er sich nach dem letzten Vorhang Zeit, bevor er den Weg zu Florentines Garderobe einschlug. Doch auch nach einer guten halben Stunde standen zahllose Menschen aufgeregt plappernd in den schmalen Fluren hinter der Bühne. Er verharrte für einen Augenblick auf dem Treppenabsatz und beobachtete das Treiben. Man gratulierte sich gegenseitig, wichtig auftretende Personen mit einer Aura von Geld kamen herbei, klopften auf Schultern oder schüttelten Hände. Blumen wurden überreicht und Autogramme gegeben, irgendwo knallte ein Sektkorken und Frauenlachen war zu hören. Es war nicht das erste Mal, dass Julen diese Szenen in Florentines Umgebung erlebte. Bis zum heutigen Tag hatte er sich ihr dabei niemals zu erkennen gegeben, zu unangenehm war ihm ihr Ruf als männermordende Chanteuse, die stets auch Vampire angezogen hatte. Zudem hatte er aus sehr viel praktischeren Gründen vermeiden wollen, dass ihre Verwandtschaft bekannt wurde. Seine Eltern stammten aus einer Zeit, von der die meisten jungen Vampire nichts mehr wussten. Ihm jedoch hatte sein Vater umfangreiche Aufzeichnungen und damit ein Wissen hinterlassen, das selbst Kieran zu schätzen wusste.
Julens ungewöhnlich früher Erfolg als Vengador hatte viele Gründe, er lag unter anderem auch darin begründet, dass ihn die meisten Gegner unterschätzten. Und diesen Vorteil hätte er unnötig früh aufgegeben, wären seine Familienverhältnisse publik geworden. Glücklicherweise legte seine Mutter ebenfalls keinen großen Wert darauf, dass man von ihrer Verbindung erfuhr, wie er heute wieder eindrücklich erfahren hatte. Dass es gut für ihn war, Abstand zu halten, bedeutete nicht, dass er sich darüber freute.
Schließlich sah er sie und fand, dass sie inmitten des Trubels fast ein bisschen verloren wirkte. Als sich ihre Blicke trafen, las er eine Müdigkeit in ihren Augen, die früher nicht dort gewesen war.
Doch sein Lächeln kam dieses Mal von Herzen, während er sich einen Weg bahnte und sie in die Arme schloss. «Ich danke dir!»
«Wie? Keine Komplimente?»
Lachend ergriff er ihre Fingerspitzen und beugte sich zu einem vollendeten Handkuss darüber. «Du warst zauberhaft, liebste Florentine!» Als er sich aufrichtete, sah er den verletzten Blick des jungen Alfredo und beeilte sich damit, ein wenig lauter als notwendig zu sagen: «Leider muss ich jetzt gehen.» Dein Geliebter sieht aus, als wolle er mich erdolchen.
Lachend winkte sie den Mann herbei. «Jonas, ich möchte dir meinen Lieblingscousin vorstellen. Er ist ein schrecklicher Mensch, aber was soll ich machen? Liliana betet ihn
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