Das Feenorakel
Kante eines zweiten Sessel, streifte die hauchdünnen Lederhandschuhe ab und machte eine einladende Handbewegung, mit der sie ihm gestattete, sich wieder zu setzen. «Es überrascht mich, dass du dir die Mühe machst, Komplimente zu verteilen.»
Der manierierte Gestus einer längst vergangenen Zeit amüsierte Julen, ihre Worte weniger. Deshalb ging er nicht darauf ein und sagte ziemlich abrupt: «Du bist also nicht einzigartig.»
Ein Schatten huschte über das ebenmäßige Gesicht und erinnerte ihn daran, dass er gut daran tat, seine Worte sorgfältiger zu wählen, wenn er Antworten von ihr wünschte.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: «Du hast große Ähnlichkeit mit deinem Vater, weißt du das?»
Drauf und dran sich für die unfreundliche Bemerkung zu entschuldigen, schwieg er nun aber lieber, bevor ihm noch eine weitere Beleidigung herausrutschte. Wortlos ließ er sich ihre Musterung gefallen.
«Du wolltest etwas über unsere Familie wissen. Ich werde dir deine Fragen beantworten, aber nur, wenn du mir den Grund für dieses plötzliche Interesse verrätst.»
«Das kann ich nicht.»
Sie hob eine Augenbraue. «Es hat mit deinem Job als Vengador zu tun.» Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. «Das muss ich vermutlich respektieren.» Sie lächelte traurig. «Also gut, tatsächlich bin ich seit Jahrhunderten keiner meiner Schwestern mehr begegnet. Wir standen uns nie besonders nahe und mir ist ziemlich egal, was aus ihnen geworden ist. Bis auf eine Ausnahme.» Sie holte tief Atem und lehnte sich zurück, ihr Blick schien in weiter Ferne etwas für seine Augen Unsichtbares zu fixieren, als könnte sie dort die Vergangenheit sehen. «Aglaopheme war meine jüngste Schwester. Sie hatte zwar eine zauberhafte Stimme, vielleicht die schönste von uns allen, aber wenig Freude daran, sie einzusetzen. Die anderen wollten nichts mit ihr zu tun haben, also nahm ich sie unter meine Fittiche. Agla änderte zwar nichts an ihrer Einstellung, aber sie war klug und lernte schnell. Bald wusste sie mehr über Diplomatie, Taktik und sogar Kriegsführung als die Männer, die sie zwar mit ihrem Gesang unterhielt, aber niemals betörte. Sie verstand es ausgezeichnet, die Macht ihrer Stimme dosiert einzusetzen, und ich war nicht zu stolz, mir viel von ihr abzuschauen. Anders als du zu glauben scheinst, ist es keineswegs unterhaltsam, wenn einem ständig irgendwelche Sterblichen mit waidwundem Blick zu Füßen liegen. Sirenen brauchen zwar die Bewunderung, aber schon die Energie eines einzigen begeisterten Zuhörers kann uns über Monate am Leben erhalten. Es ist also überhaupt nicht notwendig, die halbe Welt zu versklaven, um zu überleben.»
Das war Julen neu.
Sie rieb die Hände aneinander, als sei ihr kalt. «Unsere Schwestern haben uns verachtet.» Florentine lächelte. «Aber sie sind alle Geschichte.»
«Aglas Weisheit habe ich es letztlich zu verdanken, dass ich lange glücklich mit deinem Vater zusammenleben durfte.»
Ihre Blicke trafen sich, und Julen erkannte in diesem Augenblick zum ersten Mal, wie tief die Liebe zwischen seinen Eltern gewesen sein musste.
Florentine lehnte sich vor und ergriff seine Hände. Zum ersten Mal seit langer Zeit herrschte ein vollkommenes Einvernehmen zwischen Mutter und Sohn.
Sichtlich widerstrebend zog sie ihre Hände schließlich zurück und sprach weiter. «Eines Tages war Agla spurlos verschwunden, danach habe ich nie wieder etwas von ihr gehört, bis ich irgendwann Liliana traf. Obwohl sie selbst niemals zum Hofstaat der Feenkönigin gehört hatte, wusste sie von Gerüchten über deren Beraterin, hatte sie sogar selbst einmal gesehen. Sie sei, erzählte man sich, einst von einem mächtigen Elf von königlichem Geblüt in die Feenwelt verschleppt worden. Er habe sie, von ihrer Stimme vollkommen betört, so lange gefangen gehalten, bis sie schließlich einwilligte, seine Frau zu werden. Sie soll ihm, so hieß es weiter, einen Sohn geboren haben. An dieser Stelle war ich sicher, dass diese Geschichte nicht stimmen konnte. Denn damals gab es längst keinen männlichen Nachwuchs unter den Feen mehr. Und das lag ganz gewiss nicht an uns.» Sie zuckte mit den Schultern. «Deshalb bin ich der Sache niemals nachgegangen.»
«Nur deshalb?»
Florentine zögerte. «Nein, es gibt noch weitere Gründe, warum ich die Geschichte für höchst unwahrscheinlich halte. Liliana konnte keinerlei Ähnlichkeit zwischen der königlichen Beraterin und der Miniatur, die ich von Agla
Weitere Kostenlose Bücher