Das Feenorakel
sogar dankbar sein, dass sie sich offenbar dazu entschlossen hatte, ihren tödlichen Charme nicht auf ihre Söhne anzuwenden. Rasch bemühte er sich, seine Befürchtungen vor ihr zu verbergen.
«Warum willst du das wissen? Erzähl mir nicht ...» Sie fuhr herum. «Was ist passiert?»
Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. «Nichts.»
«Ach ja, natürlich. Du bist jetzt ein Vengador, nicht wahr?» Sie wartete seine Bestätigung nicht ab und setzte sich stattdessen wieder auf ihren Stuhl vor dem hell erleuchteten Spiegel. «Ich bin überrascht, dass dich deine Familie auf einmal interessiert.»
Er hätte ihr sagen können, dass sie ihn schon immer interessiert hatte, aber er schwieg, bis die negativen Schwingungen zwischen ihnen dick wie Schiffstaue wurden.
Mit einer ihrer kleinen Hände, die niemals stillzustehen schienen, wischte sie die dunkle Energie beiseite. «Wir waren einmal acht. Damals, als du geboren wurdest, hatte ich noch zwei Schwestern. Jetzt gibt es nur noch mich.»
«Was ist mit ihnen geschehen?» Überrascht registrierte er, dass in ihrer Stimme eine unerwartete Traurigkeit mitschwang.
«Dein Vater hat sie getötet.» Bevor er fragen konnte, sprach sie schnell weiter. «Es war unvermeidbar. Sie wollten euch, deinen Bruder und dich. Ihr seid doch noch Kinder gewesen, wir konnten das nicht zulassen.»
Sprachlos zog er sich einen zweiten Stuhl heran und setzte sich rücklings darauf. Als könnte die Lehne ihm Schutz bieten, hielt er sie fest, bis das Holz unter seinen Händen zu zersplittern drohte.
«Ich dachte ...»
«Ja, natürlich!» Sie wandte sich zu ihm. «Glaubst du wirklich, ich wäre dermaßen verkommen, dass ich mich an meinen eigenen Kindern vergriffen hätte? Du und dein Bruder, ihr seid alles, was mir noch geblieben ist auf dieser Welt. Aber du bist mir immer nur mit Hass und Verachtung begegnet.»
«Ich ...»
Mit einer Geste unterbrach sie seinen Versuch, eine Erklärung zu liefern. «Auf dieser Welt bin ich die einzige Überlebende. Allerdings ...»
«Ja?»
Draußen waren Stimmen zu hören und Himeropa lauschte ihnen schweigend. Julen hätte sie schütteln mögen, um endlich eine Antwort zu erhalten.
Stattdessen stand sie auf, und ehe er ihre Absicht erkennen konnte, hielt sie bereits sein Gesicht zwischen ihren kühlen Händen und küsste ihn.
Er war vor Schreck wie gelähmt und erst ein vernehmliches Räuspern löste seine Erstarrung. «Florentine, ich möchte nicht stören ...»
Blitzschnell sprang Julen vom Stuhl und versuchte möglichst viel Abstand zwischen sich und seine Mutter zu bekommen.
«Geh jetzt!», wies sie ihn mit kühler Stimme an, als wäre nichts passiert. Wir sprechen uns später. In seinem Kopf klang sie weicher, beinahe entschuldigend.
Julen nickte dem älteren Mann zu, der inzwischen eingetreten war, und floh regelrecht in den Gang hinaus.
«War das dein neuer Galan?», hörte er ihn fragen.
Als Antwort erklang ein glockenhelles Lachen. «Wo denkst du hin? Der Bursche ist doch noch grün hinter den Ohren.»
Den Rest brauchte Julen nicht mehr zu hören, er kannte die Methoden einer Verführerin nur zu gut. Schon wollte er sich umdrehen und davonstürmen, da zupfte jemand an seinem Ärmel. «Signora Cattaneo möchte, dass ich Ihnen dies hier gebe.»
Die Hand der Garderobiere zitterte, als sie ihm eine der teuersten Logenkarten entgegenstreckte. Was er vorhin vermutet hatte, bestätigte sich, sie war eine Fee. Ein geschickter Schachzug von seiner Mutter. Auf diese Weise hatte sie immer eine Verbündete in der Nähe und die beiden schienen sich trotz ihres merkwürdigen Rollenspiels, das er nicht ernst nahm, zu vertrauen. Andernfalls hätte sie der Frau niemals erlaubt, Zeugin des Gesprächs zu werden.
Nur kurz überlegte er, das Angebot abzulehnen. Doch dann überwog seine Neugier. Bisher hatte er in der Nähe seiner Mutter weder ungebührliche Lust noch Erregung gespürt. Julens Kräfte waren in den letzten Jahren vom Besten seiner Art geschult worden und grün hinter den Ohren war er längst nicht mehr, auch wenn seine Mutter ... Florentine , korrigierte er sich, da anderer Meinung zu sein schien.
Mit einer kurzen Verbeugung nahm Julen die Karte entgegen und raunte der kleinen Fee ein Dankeschön ins Ohr. Danach erlaubte er es seinem Körper mit den Schatten zu verschmelzen und fühlte eine merkwürdige Befriedigung dabei.
Die Oper wurde zu einem einzigartigen Erlebnis. Der Dirigent war exzellent, das Orchester ebenfalls. Sie
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