Das Feenorakel
besitze, erkennen. Außerdem sind Sirenen im Feenreich nicht beliebt und die Königin würde sich einen Bärendienst erweisen, wenn sie eine von uns zu ihrer Beraterin machte.»
Es war ihr anzusehen, dass sie nicht näher auf dieses Thema eingehen wollte, und darum verzichtete Julen darauf, weiter nachzufragen. Nur eines wollte er noch wissen. «Hast du das Bild deiner Schwester noch?»
Florentine stand auf und ging zu einem zierlichen Sekretär hinüber, der hinter dem Flügel stand.
Julen hörte, wie sie eine Schublade aufzog, und kurz darauf blickte er auf eine mit meisterlicher Hand gefertigte Miniatur. Wer auch immer darauf abgebildet war, erinnerte ihn in geradezu gespenstischer Weise an Alva. Die Frau auf dem Bild hatte zwar rötlich-braunes Haar, aber das hätte gut zu Alvas Teint gepasst. Er wusste, dass sie ihre Haare färbte. Wie es unter dem glänzenden Schwarz aussah, konnte man derzeit nur ahnen. Allerdings fehlten Aglaopheme die schräg gestellten Augen. Doch dieses Merkmal hätte Alva ohne Weiteres von ihrem Vater geerbt haben können. Jetzt erst bemerkte er Florentines Anspannung. «Ich bin mir nicht sicher, sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit jemandem, den ich kenne.»
«Willst du mir nicht sagen, warum du dich dafür interessierst?»
Julen stand auf. «Nein!» Dann besann er sich und versuchte zu erklären: «Du hast recht, es hat etwas mit meinem Job zu tun. Ich darf über Aufträge nicht sprechen, bitte versteh das!»
Sie sah ihn zweifelnd an, sagte aber schließlich: «Versprich mir, dass du es mir sagst, wenn du etwas Wichtiges über Agla herausfindest!»
«Wenn es irgendwie möglich ist ... Aber dafür möchte ich wissen, wie es dir gelingt, zu singen, ohne dein Publikum zu versklaven.»
«Du hättest Händler werden sollen, wie dein Vater!» Florentine schwieg einen Augenblick, und Julen war nicht sicher, ob sie in Erinnerungen schwelgte oder versuchte, sich zu sammeln, um seine Frage besser beantworten zu können. «Es ist schwierig zu erklären.» Sie suchte nach den richtigen Worten: «Man muss sich von der Stimme lösen. Sag ihr, sie soll sich vorstellen, dass sie sich selbst beim Singen zuhört.»
«Mutter!»
«Florentine», korrigierte sie ihn sanft und mit einem Blick auf den harten Zug um seinen Mund fügte sie hinzu: «Schon gut.»
Julen erwiderte ihre Umarmung schließlich mit sanftem Druck.
Damit entließ sie ihn. «Wenn ihr Hilfe braucht, lass es mich wissen.»
Ehe er etwas erwidern konnte, war sie fort. Einfach so. Und dieser Abgang erinnerte ihn daran, dass er es mit einem mächtigen magischen Wesen zu tun hatte, in dessen Nähe er gut daran tat, auf der Hut zu sein. Aber wie es aussah, hatte er einige ihrer Talente geerbt. Dennoch: Die Sirene Florentine in Alvas Fall um Hilfe zu bitten musste gut überlegt werden.
Das Gespräch war viel besser verlaufen, als er angenommen hatte, und Julen beglückwünschte sich zu der Idee, sie besucht zu haben. Auch wenn der unerwartet lange Ausflug bedeutete, dass er schon wieder auf unkonventionellem Wege reisen musste und Alva frühestens morgen Abend wiedersehen würde.
Unterwegs nach London waren die Anzeichen unübersehbar gewesen, die ihn davor warnten, es mit den Besuchen in der Zwischenwelt nicht zu übertreiben. Die Pfade, auf denen er sich bewegte, wirkten verschlungener als üblich und einmal hätte er sich beinahe verlaufen. Eine eindeutige Warnung! Nur zu gut wusste er, wie leicht es war, sich in den Tiefen dieser magischen Dimension zu verlieren.
In Kürze würde die Sonne aufgehen und deshalb saß er nun in London fest. Es wäre klüger, das Schicksal in dieser Nacht kein zweites Mal herauszufordern. Da war ein zweiter Besuch bei der Statthalterin eindeutig das geringere Übel.
Julen verzog das Gesicht. Ihr zu erklären, dass er wirklich nur eine Unterkunft für den Tag benötigte, würde nicht einfach werden.
Kapitel 10
In dieser Nacht schlief Alva schlecht. Zwar blieb sie von unheimlichen Träumen verschont, aber als sie mit ihren Freunden beim Frühstück saß, fühlte sie sich abgeschlagen und trotz der netten Gesellschaft merkwürdig allein.
Zum Glück blieb ihr wenig Zeit, sich selbst zu bemitleiden. Sie packte die letzten Kleinigkeiten ein, trug mit den anderen das Gepäck nach unten und wollte gerade noch einmal hochlaufen, um sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatte, als auch schon Alastair um die Ecke kam. Dieses Mal parkte er nicht vor dem Haus, sondern in einer Seitenstraße und die
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