Das Feenorakel
besonders unscheinbare Helferinnen gesucht hatte.
«Und wie möchtest du genannt werden ... Signora ?»
«Sei nicht albern. Ich bin Florentine für dich.»
«Flo.» Grinsend betrachtete er ihre zierliche Gestalt. Wenn sie aufstand, reichte sie ihm gerade einmal bis zur Brust, erinnerte er sich.
«Flo-ren-tine!», sagte sie mit Nachdruck. «Merk dir das!»
Natürlich wusste er, dass es nicht klug war, sie zu verärgern. Er brauchte schließlich ihre Hilfe. Doch er konnte einfach nicht widerstehen, sie zu provozieren. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass es etwas anderes als ein Scherz sein konnte, wenn ein erwachsener Mann wie Julen diese Florentine als seine Mutter bezeichnete.
Warum sie es hasste, Mutter genannt zu werden, wusste er nicht. Vielleicht hing es jedoch mit der sinnlichen Leidenschaft zusammen, die sie für ihre Söhne empfand. Als Liebhaber hätte sie ihn jederzeit begrüßt, davon war Julen überzeugt. Dass es niemals dazu gekommen war, hatten sie ihrem Vater zu verdanken, der die Gefahr geahnt und die halbwüchsigen Knaben rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte.
Himeropa, das war ihr richtiger Name, wäre unter anderen Umständen gewiss eine Sünde wert gewesen. Julen hatte aber trotz allem immer die Mutter in ihr gesehen, auch wenn sie ihm Mütterlichkeit verweigerte. Vielleicht hatte er sie deshalb lange gehasst und gemieden. Heute fühlte er sich beinahe erleichtert darüber, nicht mehr als milde Neugier in ihrer Gegenwart zu empfinden und vielleicht einen winzigen Hauch Freude daran, sie zu provozieren. Das meiste war allerdings nur noch Gewohnheit, die man nach gut zwei Jahrhunderten nicht einfach mal eben ablegte. Doch zu allererst war er Vengador und deshalb blickte er nun ohne erkennbare Emotionen in das Gesicht einer Frau, die Botticelli in seiner Venus verewigt hatte. Damals war sie die Lieblingsmuse des großen Künstlers gewesen, nun nannte sie sich, vielleicht als Reminiszenz an jene Zeiten, Florentine Cattaneo und galt als die jüngste Entdeckung der Opernwelt. Heute trat sie in Covent Garden auf, morgen vielleicht schon in einer anderen europäischen Metropole und nächsten Monat würde sie für acht Tage vor dem anspruchsvollen Publikum der New Yorker Carnegie Hall singen. Alle Vorstellungen waren seit einem halben Jahr ausverkauft.
Viele Feen besaßen außergewöhnliche Talente, die sie in den schönen Künsten brillieren ließen, doch Himeropa war nicht irgendeine Fee, sie war eine Sirene! In ihrer Stimme lag eine außergewöhnlich kraftvolle Magie, und was das bedeutete, hatten bereits unzählige Seeleute am eigenen Leib erfahren. Der zauberhafte Gesang einer Sirene zog jeden in seinen Bann, nicht nur die Männer der Meere, auch andere, egal ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, erlagen dem Reiz ihrer Stimme, bis der Wunsch, der Sirene um jeden Preis zu dienen, alles war, woran sie noch denken konnten.
Unglücklicherweise hatten selbst ihre eigenen halbwüchsigen Söhne der Macht ihres Gesangs immer weniger widerstehen können. Nur einem Mann war es gelungen, ihr die Stirn zu bieten: Julens Vater, ein mächtiger Dunkelelf und Vampir königlichen Geblüts, hatte sein Wissen bedauerlicherweise viel zu früh mit ins Grab genommen.
Schweigend betrachtete nun sein Sohn diese einzigartige Fee und versuchte, seine Furcht vor der eigenen Mutter zu beherrschen.
Ihr rotblondes Haar schien ihm einige Nuancen heller, sie trug es bereits für den Auftritt frisiert. Florentines tadellose Figur wurde von einem blau glänzenden Seidenkleid umschmeichelt, das die Farbe ihrer Augen wunderbar zur Geltung brachte. Augen, die seinen eigenen ähnlicher waren, als er es wahrhaben wollte. Der Saum war hochgerutscht und zeigte ihre schlanken Beine, bis sie die bloßen Füße vom Schemel nahm und aufstand.
«Was willst du?»
Trotz seines eigenen distanzierten Verhaltens verletzte ihn der kalte Tonfall und am Liebsten hätte er ihr den Rücken gekehrt. Für Alva , ermahnte er sich gerade noch rechtzeitig. «Gibt es noch andere?»
Florentine sah ihn verblüfft an. Dann lachte sie und ein Schauer lief seinen Rücken hinab, obwohl sie sich umgedreht hatte, als könne sie damit Schaden von ihm abwenden. Trotz der Techniken, die er jahrelang trainiert hatte, um sich gegen ihre Magie zu schützen, hatte sie immer noch diesen Effekt auf ihn, und er wollte nicht wissen, was geschähe, wenn sie es einmal darauf anlegen würde, ihn tatsächlich zu verhexen. So gesehen musste er vielleicht
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