Das Feenorakel
sprang auf. Ihm war sofort klar, dass sich Alva in Gefahr befand. Jetzt hätte er in ihrer Nähe sein müssen, anstatt hier in der Bibliothek der Statthalterin zu sitzen und vor dem gemütlichen Kaminfeuer in einer Erstausgabe von Oscar Wildes bekanntestem Bühnenstück zu lesen, um die Zeit bis zum Nachmittag zu überbrücken.
Dann sollte ihn eine Limousine zum City-Flughafen bringen, wo eine Maschine bereitstehen würde, um ihn über den Ärmelkanal zu fliegen, so dass er noch rechtzeitig vor Konzertbeginn bei Alva sein würde. Zum Glück hatte er bei der Statthalterin ohnehin noch etwas gut. Außerdem waren sie schon sehr lange befreundet und die Vampirin konnte sehr großzügig sein, wenn sie wollte.
Das Flugzeug zu nehmen war ihre Idee gewesen, denn auch sie fand, dass Julen das Schicksal nicht herausfordern sollte. «Eines Tages wirst du vielleicht darauf angewiesen sein, sicher durch die Zwischenwelt zu gehen. Dann bereust du es, deine Freifahrtscheine bereits verbraucht zu haben.»
Der Vergleich hatte ihm gefallen und ihr Angebot nahm er gern an.
Nun hob die Statthalterin den Kopf, klappte ihr eigenes Buch zu und sah zu ihm auf. In ihrem Gesicht war milde Neugier zu lesen und sie tadelte ihn mit mildem Spott. «Was auch immer gerade in deinem Kopf herumspukt. Es gibt keinen Grund, derart lästerlich zu fluchen, mein Lieber.»
Angestrengt lauschte er in die Ferne, die der Raum nicht bot und die sich nur in seinen Gedanken befand. Sein Stöhnen war dabei nicht beabsichtigt.
«Julen!» Mit einer Geschwindigkeit, die das menschliche Auge getäuscht hätte, war sie aufgestanden und legte nun ihre Hand auf seine Schulter. «Was ist passiert? Gibt es Probleme mit deinem Schützling?»
Er hatte ihr in groben Zügen erzählt, woraus seine Aufgabe bestand. Die Vampirin, die seit Jahrzehnten Herrin über London war, genoss das volle Vertrauen der Causantín-Brüder, von denen der eine, Kieran, nun sein Chef war und der andere ihm vor nicht allzu langer Zeit die Frau weggeschnappt hatte. Die Hand auf seiner Schulter gab ihm die notwendige Ruhe und ungefragt schenkte ihm die Statthalterin Zugang zu ihren Kräften, so dass er der schnell erkaltenden Spur, die Alvas Hilferuf hinterlassen hatte, Kraft seiner Gedanken folgen konnte.
Jemand war in ihre Träume eingedrungen. Die weißen Träume , so hatte sie ihre nächtlichen Schrecken genannt, die sich offenbar aber an keine Tageszeit hielten. Was er nun miterlebte, kam weitaus bedrohlicher daher als ihre kurze Panikattacke vor dem ersten Konzert. Aber mit dem bevorstehenden Auftritt, da war er sicher, hatte es nichts zu tun.
Kein Wunder, dass sie sich davor fürchtete. Deutlich nahm er eine fremde Macht wahr, die sich jedoch damit begnügte, Alva zu beobachten. Weil er keinerlei Anzeichen für einen direkten Angriff erkennen konnte, zog er sich schließlich behutsam zurück, ohne selbst erkannt worden zu sein.
Um blindlings angreifen zu können, wusste er zu wenig über seinen Gegner. Julen verfluchte die Situation, aber vorerst waren ihm die Hände gebunden und solange Alva sich nicht in größerer Gefahr befand, zögerte er, alle Karten auszuspielen.
Dann kam ihm eine Idee. Er zog sein Handy hervor und wählte ihre Nummer. Als das Freizeichen zum zweiten Mal erklang, trommelte er bereits nervös mit den Fingern auf dem Türrahmen.
«Hallo?» Ihre Stimme klang so süß und verschlafen, dass er unweigerlich lächeln musste.
«Ist alles in Ordnung?»
«Woher ...? Oh, egal. Ich war seekrank, aber wir sind schon angekommen und ich ruhe mich noch ein bisschen aus, bevor ich zum Soundcheck gehe.»
«Das machst du!» Julen war unglaublich erleichtert. «Bis später.»
«Ja ...» Sie war schon wieder eingeschlafen.
Selbstverständlich hätte er alles riskiert, um Alva zu beschützen, aber was auch immer sie bedrohte, war noch nicht bereit zuzuschlagen. Dieses magische Wesen war anders als alles, was er jemals zuvor erlebt hatte, und trotzdem hätte er seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass es der jungen Fee vorerst nicht schaden wollte. Vielmehr kam es ihm vor, als hätte er in der eisigen Weite ihrer weißen Träume einen Nebenbuhler um ihre Gunst getroffen.
Während sie gemeinsam auf den Sonnenuntergang warteten, bestätigte die Statthalterin seinen Eindruck, ohne es zu wissen. «Hast du vielleicht etwas mit der Kleinen angefangen?» Sie musste etwas von dem mitbekommen haben, was er in Alvas weißer Welt gespürt hatte. Seine Gedankenwelt mochte er sicher vor
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