Das Feenorakel
Frauen, um noch auf einen Drink an die Bar zu gehen. Zweifellos, um dort nach Material Ausschau zu halten. Alva war froh, sie loszuwerden, denn beim Essen hatte sich das Gespräch überwiegend um die Tricks gedreht, passendes Männermaterial zu erobern. Über Musik wurde kaum gesprochen, und sie begann zu glauben, dass die Mädchen diesen Job nur machten, um sich auf einer Bühne im rechten Licht zu präsentieren, damit ihnen eines Tages ein erfolgreicher Rockstar ins Netz ging. All das war Alva ganz gleich, und weil ihr die Mischung aus schwülem Parfüm und Essensdünsten auf den Magen schlug, war sie froh, endlich auf eines der Außendecks gehen zu können, um sich den Wind um die Nase wehen zu lassen.
Sie liebte das Meer, auch wenn sie es bisher nur vom Ufer aus kannte, und freute sich auf den salzigen Nebel, der einen an der See früher oder später umhüllte. Nebeneinander lehnten sie sich über die Reling und blickten hinab. Unter ihnen schien das Wasser in schwindelerregender Eile vorbeizurasen. Chris schien das zu gefallen. Alva heftete ihren Blick schnell wieder auf den Horizont, der aber dummerweise nun nicht mehr stillstehen wollte. Stattdessen hob und senkte er sich, als wäre die Welt dabei, aus den Angeln zu springen.
«Ist das nicht toll?» Chris schrie gegen die tosende See an. Der Wind trug nur Wortfetzen zu Alva. Sie hatte sich die Überfahrt geruhsamer vorgestellt, wie eine Kreuzfahrt mit Deckspielen und Captain’s Dinner. Es war das erste Mal, dass sie auf einem großen Schiff fuhr. Nicht groß genug allerdings, um die Sicherheit eines Ozeandampfers zu vermitteln. Als sie nun auch noch an das Schicksal der Titanic-Passagiere dachte, wurde ihr endgültig schlecht, obwohl weit und breit keine Eisberge zu sehen waren.
Fliegen, das stand jetzt schon fest, war für sie eindeutig die angenehmere Art zu reisen. Ihr Magen war offenbar der gleichen Meinung. Als wollte er die rollenden Bewegungen der Fähre ausgleichen, hob und senkte er sich passend zum Horizont.
Alva wurde es zu viel. Sie ging ein paar Schritte zurück, schwankte unsicher und tastete deshalb Halt suchend nach dem Geländer, das an der kalten Stahlwand des Schiffs angebracht war. Ihre Knie schienen auf einmal aus dem gleichen Gummi zu sein wie ihr Magen.
«Du siehst ganz blass aus.» Chris war ihr gefolgt und fasste sie am Ellenbogen.
«Vielleicht war der Burger nicht in Ordnung», flüsterte Alva. «Ich würde mich gern ein bisschen hinlegen.»
Chris lachte. «Es ist nicht dein Abendbrot, du bist seekrank! Komm, ich bringe dich in die Kabine.»
Dort angekommen half sie ihr, sich hinzulegen, brachte ein paar Handtücher und einen Spuckbeutel aus dem Bad. «Für den Notfall! Aber vorher nimmst du das hier.» Damit legte sie Alva zwei Tabletten in die Hand und stellte ein Glas Wasser daneben.
Die Vorstellung, etwas hinunterschlucken zu müssen, war beinahe zu viel für Alva. Gleich! Nur einmal kurz hinlegen. Sie ließ sich nach hinten auf ihr Bett sinken.
«Ich hätte nie geglaubt, dass einem dermaßen elend sein kann», sagte sie mit matter Stimme und schloss die Augen. Als Chris fragte, ob sie sie allein lassen könne, wedelte Alva kraftlos mit der Hand. Wenig später hörte sie am Klicken der Kabinentür, dass Chris gegangen war.
Als Julen mittags angerufen hatte, um ihr zu sagen, er hätte beruflich zu tun und würde erst später zu ihnen stoßen, war sie enttäuscht gewesen. Er hatte zwar versprochen, pünktlich zum Auftritt da zu sein, aber sie hatte sich die gemeinsame Schiffsreise so romantisch vorgestellt.
Chris hatte ihr gestern noch mit einem wissenden Lächeln angeboten, bei den anderen zu übernachten und ihr die Zweibettkabine zu überlassen, die der Tourmanager freundlicherweise für die beiden Frauen gebucht hatte.
Alva war dieses Arrangement schrecklich peinlich gewesen, andererseits hatte sie sich auch schon darauf gefreut, einmal längere Zeit ungestört mit Julen verbringen zu können. Seit dem gestrigen Kuss machte sie sich nichts mehr vor. Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt und bei dem Gedanken, dass sie ihm womöglich auch nicht ganz gleichgültig war, beschleunigte sich ihr Puls. Leider war dies eine gänzlich unbekömmliche Reaktion, und sie schaffte es gerade noch rechtzeitig in das winzige Bad. Sie spuckte, bis ihr Körper nichts mehr hergab und der Würgereiz ein wenig nachließ. Endlich! Sie drehte sich zur Seite, um ihren Mund auszuspülen, da krampfte sich ihr Magen erneut zusammen.
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