Das fehlende Glied in der Kette
Tee war es noch eine Weile hin. Vielleicht vier Uhr – oder etwas später. Wie ich schon sagte, ich kam also zufällig vorbei, als ich sehr laute und wütende Stimmen hier drinnen hörte. Ich wollte eigentlich gar nicht lauschen, aber dann… Ich blieb stehen. Die Tür war zu, aber Mrs. Inglethorp redete sehr laut und deutlich und ich konnte genau verstehen, was sie sagte. ‹Du hast mich belogen und betrogen›, sagte sie. Ich konnte nicht verstehen, was Mr. Inglethorp antwortete, denn er sprach leiser als sie, aber dann sagte sie: ‹Wie kannst du es wagen? Ich habe dir deine Kleidung gekauft und dich ausgehalten! Alles verdankst du mir! Und als Belohnung dafür ziehst du unseren guten Namen in den Schmutz!› Dann konnte ich wieder nichts verstehen, aber danach redete sie weiter: ‹Nichts, was du noch sagst, kann meinen Entschluss ändern. Ich kenne meine Pflicht. Ich habe meinen Entschluss gefasst. Bilde dir nur nicht ein, dass die Angst vor einem öffentlichen Skandal mich zurückhalten könnte.› Dann dachte ich, sie würden rauskommen, und deshalb bin ich schnell weggegangen.»
«Sie sind ganz sicher, dass Sie die Stimme von Mr. Inglethorp gehört haben?»
«Aber ja, wer hätte es denn sonst sein sollen?»
«Hm. Und was geschah dann?»
«Später kam ich zurück in die Halle, aber da war alles still. Um fünf läutete Mrs. Inglethorp und wollte, dass ich ihr eine Tasse Tee – aber nichts zu essen – in ihr Boudoir bringe. Sie sah schrecklich aus – ganz blass und aufgeregt – und sagte: ‹Dorcas, mir ist etwas Schreckliches passiert›, und ich sagte: ‹Das tut mir Leid, gnädige Frau. Bestimmt geht es Ihnen nach einer guten Tasse Tee wieder besser.› Sie hielt etwas in der Hand. Ich weiß nicht, ob es ein Brief oder nur ein Zettel war, aber es war etwas darauf geschrieben, und sie starrte es dauernd an, als könnte sie nicht glauben, was da stand. Sie redete leise mit sich selbst, als ob sie mich vergessen hätte: ‹Diese wenigen Worte – und nichts ist mehr, wie es war.› Und dann sagte sie zu mir: ‹Traue niemals einem Mann, Dorcas, das verdienen die Männer nicht!› Ich holte ihr schnell eine Tasse Tee, und sie bedankte sich bei mir und sagte, danach würde es ihr bestimmt wieder besser gehen. ‹Ich weiß nicht, was ich tun soll›, sagte sie. ‹Ein Eheskandal ist etwas Schreckliches, Dorcas. Am liebsten würde ich alles vertuschen.› In dem Augenblick kam Mrs. Cavendish herein, und sie sagte nichts mehr.»
«Hatte sie den Brief, oder was immer das war, noch in der Hand?»
«Ja.»
«Was hat sie damit wohl nachher gemacht?»
«Das weiß ich nicht, aber wahrscheinlich hat sie ihn in ihren violetten Aktenkoffer eingeschlossen.»
«Hat sie darin immer alle wichtigen Papiere aufbewahrt?»
«Ja. Sie hat ihn jeden Morgen mit heruntergebracht und jeden Abend mit nach oben genommen.»
«Wann hat sie den Schlüssel dazu verloren?»
«Sie vermisste ihn gestern während des Mittagessens und trug mir auf, ich sollte sorgfältig danach suchen. Sie hat sich deshalb sehr aufgeregt.»
«Aber sie besaß einen Ersatzschlüssel?»
«Oh ja, Sir.»
Dorcas sah Poirot sehr aufmerksam an und, ehrlich gesagt, ich auch. Was sollte das alles mit dem verlorenen Schlüssel? Poirot lächelte.
«Lassen Sie nur, Dorcas, es gehört zu meinem Beruf, dass ich bestimmte Dinge weiß. Ist das der verlorene Schlüssel?» Damit zog er aus seiner Tasche den Schlüssel, den er oben im Schloss des Aktenkoffers gefunden hatte.
Dorcas wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen.
«Stimmt, Sir, ganz genau. Aber wo haben Sie ihn gefunden? Ich habe überall danach gesucht.»
«Ah, aber er war gestern sicherlich nicht da, wo er heute war. Lassen Sie uns nun kurz zu einem anderen Thema kommen. Besaß Mrs. Inglethorp ein dunkelgrünes Kleid?»
Dorcas war durch die unerwartete Frage sichtlich aus der Fassung gebracht.
«Nein, Sir.»
«Sind Sie sich ganz sicher?»
«Aber ja, Sir.»
«Besitzt sonst jemand im Haus ein grünes Abendkleid?»
Dorcas überlegte. «Miss Cynthia hat ein grünes Abendkleid.»
«Hell- oder dunkelgrün?»
«Hellgrün, es ist aus – ich glaube, man nennt das Chiffon.»
«Schade, das suche ich nicht. Und niemand sonst hat ein grünes Kleidungsstück?»
«Nein, Sir, nicht dass ich wüsste.»
Poirots Gesicht verriet mit keiner Regung, ob er enttäuscht war oder nicht. Er sagte nur: «Gut, lassen wir das und machen wir weiter. Haben Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, dass Mrs. Inglethorp
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