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Das fehlende Glied in der Kette

Das fehlende Glied in der Kette

Titel: Das fehlende Glied in der Kette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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Tage.
    «Ich glaube – ich bin mir sicher –, dass er mich zuerst sehr gern hatte. Aber ich fürchte, wir passten nicht sonderlich gut zusammen. Fast von Anfang an trieben wir auseinander. Er wurde meiner bald überdrüssig – so wenig schmeichelhaft das für mich auch ist, es ist die Wahrheit.»
    Ich musste irgendetwas Gegenteiliges gemurmelt haben, denn sie sprach rasch weiter: «Doch, das stimmt! Es macht mir jetzt nichts mehr aus, jetzt wo sich unsere Wege trennen werden.»
    «Was meinen Sie damit?»
    Sie antwortete ruhig: «Ich meine damit, dass ich nicht in Styles bleiben werde.»
    «Sie und John werden nicht hier leben?»
    «John wird wohl hier leben, aber ich nicht.»
    «Wollen Sie ihn verlassen?»
    «Ja.»
    «Aber warum?»
    Sie schwieg lange und sagte schließlich: «Vielleicht, weil ich frei sein möchte!»
    Als sie das sagte, hatte ich plötzlich eine Vision von weiten Ebenen, urwüchsigen Wäldern, Neuland – und ein Bild davon, was Freiheit für eine Frau wie Mary Cavendish bedeuten musste. Einen Moment lang sah ich sie so, wie sie war, ein wildes, stolzes Geschöpf, so ungezähmt wie ein scheuer Vogel. Es klang wie ein Aufschrei, als sie fortfuhr: «Sie wissen es nicht, Sie ahnen ja nicht, wie sehr dieses furchtbare Haus ein Gefängnis für mich war!»
    «Ich verstehe», sagte ich. «Aber – aber überstürzen Sie nichts!»
    «Überstürzen!» Ihre Stimme spottete über meine Mahnung.
    Dann plötzlich sagte ich etwas, weswegen ich mir schon im nächsten Moment die Zunge hätte abbeißen können: «Wissen Sie, dass Dr. Bauerstein verhaftet wurde?»
    Sofort verwandelte sich ihr Gesicht in eine ausdruckslose Maske. «John war so freundlich, es mir heute Morgen mitzuteilen.»
    «Ja – und wie denken Sie darüber?», fragte ich zaghaft.
    «Worüber?»
    «Über seine Verhaftung.»
    «Was sollte ich denn denken? Offensichtlich ist er ein deutscher Spion, jedenfalls hat der Gärtner das John erzählt.»
    Ihre Stimme und ihr Gesicht waren völlig gefühl- und ausdruckslos. Machte es ihr etwas aus oder nicht?
    Sie ging ein paar Schritte und richtete die Blumen in einer der Vasen. «Die hier sind schon ziemlich verblüht. Ich muss frische holen. Würden Sie mich bitte vorbeilassen – danke, Mr. Hastings.» Und damit ging sie leise an mir vorbei auf die Terrasse hinaus und nickte mir kühl zu, als wäre ich nun entlassen.
    Nein, sie machte sich bestimmt nichts aus Bauerstein. Keine Frau könnte diese Rolle mit so eisiger Gleichgültigkeit spielen.
    Poirot erschien auch am folgenden Morgen nicht, und die Scotland-Yard-Beamten ließen sich ebenfalls nicht sehen.
    Aber um die Mittagszeit tauchte ein neues Beweisstück auf – oder vielmehr ein fehlendes Beweisstück. Bislang hatten wir vergeblich nach dem vierten Brief gefahndet, den Mrs. Inglethorp am Abend vor ihrem Tod geschrieben hatte. Da die Suche erfolglos geblieben war, hatten wir sie aufgegeben und hofften, der Brief würde eines Tages von allein auftauchen. Und genau so geschah es, und zwar in Form einer Mitteilung, die mit der zweiten Post kam. Ein französischer Musikverlag bestätigte den Scheck von Mrs. Inglethorp und bedauerte, dass es ihnen nicht gelungen wäre, eine bestimmte Sammlung russischer Volkslieder aufzutreiben. Damit war die letzte Hoffnung verschwunden, mit Hilfe von Mrs. Inglethorps Korrespondenz an jenem tragischen Abend das Rätsel zu lösen.
    Als ich vor dem Tee einen Spaziergang zu Poirot machte, um ihm die neue Enttäuschung mitzuteilen, war er zu meinem Befremden abermals nicht da.
    «Ist er wieder nach London gefahren?»
    «Oh nein, Monsieur, er hat nur den Zug nach Tadminster genommen. Um sich die Apotheke einer jungen Dame anzusehen, wie er sagte.»
    «So ein Esel!», entfuhr es mir. «Ich habe ihm doch gesagt, dass der Mittwoch ihr einziger freier Tag ist! Würden Sie ihm dann bitte ausrichten, dass er uns morgen besuchen soll?»
    «Gewiss, Monsieur.»
    Aber am folgenden Tag tauchte Poirot nicht auf. Langsam wurde ich wütend. Er verhielt sich uns gegenüber wirklich ziemlich arrogant.
    Nach dem Mittagessen nahm Lawrence mich beiseite und fragte, ob ich Poirot heute noch besuchen würde.
    «Nein, ich denke eher nicht. Wenn er uns sehen will, kann er ja herkommen.»
    «Hm.» Lawrence sah unentschlossen aus. Er verhielt sich ungewöhnlich nervös und aufgeregt, und das machte mich neugierig.
    «Was gibt es denn?», fragte ich. «Wenn es irgendetwas Wichtiges ist, könnte ich hingehen.»
    «Es dreht sich um nichts Besonderes,

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