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Das Fenster zum Hof

Das Fenster zum Hof

Titel: Das Fenster zum Hof
Autoren: Cornell Woolrich
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wir gehen jetzt gleich .«
    Sie fing an zu packen. Sie brauchte so
lange dazu, daß es ihm fast den Verstand raubte. Sie schien nicht zu erkennen,
wie dringend es war, verschwendete so viel Zeit mit Überlegungen, was sie
mitnehmen und was sie hierlassen sollte, als wollten sie eine Spritztour aufs
Land machen. Er ging immer wieder zur Schlafzimmertür und drängte sie zur Eile:
»Pauline, mach schnell! Beeil dich, Pauline !«
    Sie weinte viel. Sie war eine folgsame
Ehefrau und fragte nicht weiter, in was für Schwierigkeiten er steckte. Sie
weinte einfach nur, ohne den genauen Grund zu kennen.
    Als sie schließlich mit einem kleinen
Koffer ins Wohnzimmer kam, kniete er neben dem Fenster, als suche er auf allen
vieren unter einer Frisierkommode nach einem Kragenknopf. Er warf ihr einen
gequälten Blick zu. »Zu spät — wir können nicht zusammen hinausgehen. Da
draußen steht schon jemand und beobachtet das Pfaus .«
    Sie ging neben ihm in die Hocke und
schaute aus dem Fenster.
    »Guck geradeaus, auf die andere
Straßenseite. Siehst du ihn? Seit zehn Minuten rührt er sich nicht von der
Stelle. So steht doch keiner grundlos da...«
    »Vielleicht wartet er auf jemanden .«
    »Richtig«, murmelte er düster. »Und
zwar auf mich.«
    »Aber das weißt du doch gar nicht .«
    »Nein, aber wenn ich es ausprobiere und
mich zeige, dann ist es auch schon zu spät. Du mußt allein hier raus, mußt vor
mir gehen .«
    »Nein, wenn du hierbleibst, dann will
ich auch...«
    »Ich bleibe nicht hier. Ich kann nicht
hierbleiben! Ich komm nach, und wir treffen uns irgendwo. Aber es ist
einfacher, wenn wir getrennt von hier weggehen und nicht zusammen. Ich kann
über das Dach klettern oder durch ein Kellerfenster steigen. Dich wird er nicht
anhalten, dich suchen sie nicht. Du gehst vor und wartest auf mich. Nein, ich
hab eine bessere Idee. Also, paß auf: Du kaufst zwei Fahrkarten und setzt dich
am Hauptbahnhof in den Zug, ohne auf mich zu warten...« Während er sprach, nahm
er ein paar Geldscheine aus dem Bündel und drückte sie ihr in die Hand.
Widerwillig nahm sie das Geld. »Jetzt hör gut zu. Zwei Fahrkarten nach
Montreal...«
    Bestürzt schaute sie ihn an. »Wir
können nicht mehr im Land bleiben ?«
    Wenn man einen Mord begangen hat, kann
man in keinem Land mehr bleiben. »Wir müssen hier weg, Pauline. Also, der
Montreal-Expreß fährt jeden Abend um acht. Um Punkt acht verläßt er den
Hauptbahnhof. Zwanzig Minuten später hält er kurz am Nordbahnhof. Da steig ich
dann zu. Sieh zu, daß du ihn kriegst, sonst verpassen wir uns. Halt mir einen
Platz frei...«
    Verzweifelt klammerte sie sich an ihn.
»Nein, nein. Ich hab Angst, daß du nicht kommst. Daß dir irgendwas zustößt. Daß
du den Zug verpaßt. Wenn ich jetzt weggehe, seh ich dich vielleicht nie wieder
und muß die Reise allein machen, ohne dich...«
    Er versuchte, sie zu beruhigen, und
hielt ihre Hände fest in den feinen. »Pauline, ich geh dir mein Ehrenwort...«
Das klang gut, jetzt, wo er ein Mörder war! »Pauline, ich schwöre dir...«
    »Hier. Darauf. Darauf mußt du mir einen
heiligen Eid schwören, sonst geh ich nicht .« Sie nahm
ein kleines Karneolkreuz an einem goldenen Kettchen aus ihrer Handtasche — eines
der wenigen Dinge, die sie noch nicht versetzt hatten. Sie legte es in ihre
Handfläche und drückte seine rechte Hand darauf. Sie sahen einander mit
geradezu religiöser Inbrunst in die Augen.
    Seine Stimme bebte. »Ich schwöre, daß
mich nichts davon abhalten wird, zum Zug zu kommen; ich werde zu dir kommen,
egal was passiert, egal wer versucht, mich aufzuhalten. Und wenn der Himmel
einstürzt, ich werde dich heute abend um zwanzig nach acht im Zug treffen, tot
oder lebendig !«
    Sie legte das Kreuz weg, und ihre
Lippen trafen sich zu einem kurzen, aber leidenschaftlichen Kuß.
    »Jetzt beeil dich«, drängte er sie. »Er
steht immer noch da. Schau ihn im Vorbeigehen nicht an. Wenn er dich anhält und
fragt, wer du bist, nenn einen anderen Namen...«
    Er begleitete sie bis vor die
Wohnungstür und sah ihr nach, wie sie die Treppe hinabging. Das letzte, was sie
ihm zuflüsterte, war: »Dick, sei bitte vorsichtig, mir zuliebe. Paß auf, daß
dir bis heute abend nichts passiert .«
    Er ging zurück zum Fenster und kauerte
sich hin, die Wange ans Fensterbrett gepreßt. Gleich darauf trat sie aus dem
Haus. Sie war schlau genug, nicht nach oben zu schauen, obwohl der Drang danach
stark gewesen sein mußte. Der Mann stand immer noch da drüben. Er
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