Das ferne Leuchten - das Marsprojekt ; 1
lagen neben jedem Platz zwei Kalziumtabletten.
»Die nehm ich nicht«, erklärte Elinn sofort und schob die großen, weißen Tabletten von sich fort.
»Schatz, du musst sie nehmen«, mahnte Mutter. »Deine Knochen müssen Kalzium einlagern, damit sie fest genug werden für die Schwerkraft der Erde…«
»Ich geh sowieso nicht auf die Erde.«
»Wenn wir alle gehen, wird dir nichts anderes übrig bleiben.«
»Von mir aus könnt ihr gehen«, sagte Elinn und schaufelte sich trotzig Getreidebrei aus dem Topf in ihre Schale. »Ich bleibe hier.«
Carl sah Elinn von der Seite an, und sein Gefühl, dass sie wieder irgendetwas Unvernünftiges vorhatte, verstärkte sich. Sie konnte enorm bockig sein. Bestimmt war sie das dickköpfigste Wesen im ganzen Sonnensystem.
Eine Weile sagte niemand etwas. Dann meinte Mutter behutsam: »Ich kann verstehen, wie euch zu Mute ist. Glaubt mir. Ihr hängt an eurer Heimat, das ist ganz normal. Aber ihr müsst versuchen, es zu akzeptieren. Manchmal ist es so im Leben, dass etwas endet und etwas anderes beginnt.«
Carl schabte ein paar Apfelraspeln vom Rand seiner Schüssel. »Aber die ganze Siedlung, die Felder… Das sollen wir alles zurücklassen, einfach so? Ich meine, das ist doch völlige Verschwendung.«
»Du hast ja gehört, was Pigrato gesagt hat. Was das alles trotzdem kostet. Daran kann ich auch nichts ändern.« Mutter nahm Elinns Tabletten und legte sie ihr neben die Teetasse. »Bitte stell dich nicht so an. Ich will nicht, dass du dir jedes Mal was brichst, wenn du auf der Erde hinfällst.«
»Ich hab schon gesagt, ich geh nicht zur Erde«, sagte Elinn und schob die Tabletten zurück in die Mitte des Tisches.
Mutter tat, als hätte sie es nicht gesehen. »Wisst ihr, wir können sehr stolz sein auf das, was wir geschaffen haben. Und wir haben hier auf dem Mars etwas Außergewöhnliches erlebt, etwas, um das uns viele Menschen beneiden. Diese Erinnerungen kann uns keiner nehmen, egal, was geschieht. Daran müsst ihr denken, wenn der Abschied wehtut.« Nun griff sie doch nach den Tabletten und hielt sie Elinn wieder hin. »Bitte. Es ist besser, sie zum Essen zu nehmen.«
Elinn schob die Unterlippe trotzig nach vorn. »Ich bin aber schon satt«, behauptete sie. Damit stand sie auf und verließ hoch erhobenen Hauptes das Esszimmer.
Mutter seufzte, als man die Tür ihres Zimmer zuschlagen hörte. »Sag mal, hat sie eigentlich immer noch diesen Fimmel mit den Marsianern?«
Carl nickte unbehaglich.
»Kannst du ihr das nicht ausreden?« Sie fuhr sich geistesabwesend durch das Haar, schien nicht wirklich auf eine Antwort zu warten. »Da hat ihr Vater ihr vielleicht was ins Ohr gesetzt. Na ja, morgen werde ich die Kalziumtabletten jedenfalls zermörsern und ins Frühstück rühren. Auch wenn man das eigentlich nicht soll.«
In den Gängen und Werkstätten der Siedlung unter dem Marsboden herrschte weiterhin emsige Betriebsamkeit. Zwar waren nun alle Arbeiten, die mit dem Bau neuer Gebäude oder mit Expeditionen zu tun hatten, mit einem Schlag überflüssig geworden, dafür mussten andere Dinge geplant werden: Alle Siedler würden sich eingehenden medizinischen Untersuchungen unterziehen müssen, die Einrichtungen der Siedlung mussten darauf vorbereitet werden, abgeschaltet, stillgelegt oder konserviert zu werden, sodass eines besseren Tages Raumfahrer von der Erde zurückkehren und auf das zurückgreifen konnten, was die ersten Marssiedler geschaffen hatten.
Und alle Siedler würden einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit darauf verwenden müssen, ihre Muskeln zu trainieren, um sich auf die dreifach höhere Schwerkraft der Erde vorzubereiten.
Hierfür gab es einen eigenen Kraftraum, der voller riesiger Trainingsmaschinen mit Gewichten, Seilzügen und Hebelstangen stand und aussah wie ein Folterkeller. Carl war, seit er beschlossen hatte, dass er eines Tages auf der Erde studieren würde, ab und zu hierher gekommen, um Gewichte zu stemmen, doch noch nie war der Raum so voll gewesen wie an dem Tag nach Pigratos Ankündigung.
Die meisten waren schlechter Laune.
»Ich glaub’s ja immer noch nicht«, sagte ein älterer Mann, von dem Carl nur wusste, dass er mit Vornamen Yehudi hieß, zu einem anderen. »Die schließen die Marssiedlung aus Geldnot? Das kann er seiner Großmutter erzählen.«
»In den Nachrichten reden sie dauernd von fünf Milliarden«, erwiderte der andere, dem von seinen Bizepsübungen der Schweiß vom Gesicht lief. »Das sind fünf Milliarden gute Gründe.
Weitere Kostenlose Bücher