Das Fest Der Fliegen
Staff-Grundstücks wieder zur Stadt hin entfernte, in einer Gasse ohne Namen, die an die Hauptstraße stieß und an der, obwohl sie nur fünfzig Schritte lang war, zwei Laternen standen. Von der Bundesstraße kamen sie, verschwanden dort im Wildwuchs des Grabens neben der Bankette. Sie ließen sich zum alten Bahnhof nach Zungen-Neustadt fahren und gingen zu Fuß Richtung Altstadt zu der kaum noch benutzten Unterführung, oder sie machten einen großen Bogen um das alte Zungen, traten aus dem Mahrwald auf das Feld neben der Straße, überquerten auf der Brücke die Mahr, um zu der Stelle zu gelangen, wo am tiefen Ende der Böschung der Pfad begann. Jeder blieb ungesehen. Als die Nacht einbrach, waren sie vollzählig versammelt, in ihre dunkelblauen Kutten gekleidet und mit dem schwarzen Zingulum gegürtet. Elf Engelslegionäre. Das Tribunal über Domingo, zu dem der Großabt sie zusammengerufen hatte, konnte eröffnet werden. Es war das erste Tribunal über einen der Ihren seit fünf Jahren. Den Teufel hatten sie ihm ausgetrieben. Jetzt verlangte sie nach der Wahrheit. Judas oder nicht? Was wusste er von denen, die ihn gesehen hatten? Schleppte er ihnen die Gefahr ins Haus, mitten in ihre Engelslegion? Jeder von ihnen fürchtete sich davor, dass sein Doppelleben enttarnt werden könnte.
Das Licht der Xenonstrahler galt als reinweiß, blendend drang es aus den Burgfenstern in die Nacht. Innen im Atelier war es Eishöhlenlicht, das jeden Blau- und Grünton in den Bildern verstärkte. Swoboda berücksichtigte die Verschiebung in seiner Farbwahl.
Vor sechs Tagen hatte er Lecouteux das Porträt des Edinburgh-Täters gezeigt. Ein langer, sehr von Rotwein beschwingter Abend mit Martina am Tisch in der Atelierküche hatte mit allseitigem Du und dem Versprechen geendet, ähnlich fröhliche Stunden demnächst in Paris zu verbringen. Swoboda hatte auf Bitten seines Kollegen die Xenonstrahler eingeschaltet, damit Lecouteux mit seinem Mobiltelefon Fotos von dem Porträt des Edinburgh-Mörders aufnehmen konnte. »Ausschließlich für Erkennungszwecke! Versprochen.« Morgens hatte die Küche nach dem kalten Rauch von Lecouteux’ und Martinas Zigaretten gestunken. Am Nachmittag war Swoboda in die Hauptstadt gefahren, zu Frau Dr. Sallwey. Die Therapiestunde war unter seinen Erzählungen rasch vergangen, und er wunderte sich, wie offen er über die vertraulichen Details der Rosenkranzakte sprach. Ruth Sallwey hatte ihn am Ende gebeten, erst wieder zu kommen, wenn weitere Porträts entstanden seien. »Jetzt sind Sie auf der Spur Ihrer Erinnerung. Gehen Sie einfach weiter. Vergessen Sie nie: Sie sind der Maler, Sie sind nicht der Kommissar. Der Kommissar ist in Pension, selbst wenn man Sie jetzt wieder einsetzen will. Der Maler ist jung, er ist wach, er hat seine Augen überall, auch in sich selbst.« Die Therapeutin behielt recht. Der Maler Swoboda hatte seinen eigenen Weg, sich zu erinnern. Er malte wie manisch. Die Bilder kamen nicht langsam und zögerlich aus der Tiefe seines Gedächtnisses ans Licht. Sie überfielen ihn, schossen aus dem Dunkel herauf und rannten gegen ihn an. Ihm war, als habe sich in den stummen Schichten seines Unbewussten ein Beben ereignet, dessen Wellen nun in dichter Folge sein Bewusstsein erreichten und die Gesichter von Tätern aus seinen Jahren als Kriminaler in seinen Blick spülten. Er musste nur noch aufzeichnen, was er sah. In den ersten Tagen skizzierte er Umrisslinien und Proportionen, Größe und Abstand der Augen, Ohrenansatz, die Kohlestifte schrappten über die Leinwände und wurden schnell aufgebraucht, schwarz-weiße Gesichter entstanden, Mörder, Vergewaltiger, Männer, die in Raubüberfällen, die sie als Kinderspiel geplant hatten, zu Totschlägern geworden waren. Auch Sinzinger war unter den Köpfen, auch Ungureith. Swoboda hatte das Gefühl, dass er nicht auswählen konnte. Die Bilder wählten ihn, bemächtigten sich seines Arms, um sichtbar zu werden, er trank viel in diesen Nächten, aß nur, wenn Martina ihn erinnerte, ihn versorgte, das Rauchen fehlte ihm entsetzlich, als ob das Bedürfnis nach Zigaretten mit der Erinnerung an seine Kriminalfälle zurückgekehrt wäre.
Um den erhöhten Sitz des Großabts waren elf Stühle im Kreis aufgestellt. Domingo wurde hereingeführt. Sie hatten ihm keine Bekleidung erlaubt. Nichts sollst du verbergen. Diese Regel gehörte zur Befragung, die nicht zum ersten Mal an einem ihrer Brüder vorgenommen wurde. Die elf Engelslegionäre setzten sich,
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