Das Fest Der Fliegen
Lebendigkeit. Und die entschied über die Ähnlichkeit. In dieser Nacht entstanden vier Bilder. Vier Gesichter, alles andere als schön, verwüstete Seelen, die dennoch den Betrachter zu fragen schienen, was mit ihnen geschehen sei.
Domingo erzählte von dem Mord an Pfarrer Lucius Mawhiney, von seiner Flucht, von der Nacht nach dem Mord, in der er sich in einem Burggang des Castles verborgen hatte. Den Tag über war er in Edinburgh umhergeirrt, immer in Furcht, entdeckt zu werden, abends aber zurückgekehrt ins Museum. Auf der Turmterrasse bei den Fernrohren hatte er gewartet, bis die letzten Besucher gegangen waren. Gavin Fettercairn schien noch innen am Projektionstisch zu arbeiten, kam dann mit dem Zettelkasten und einer Flasche Whisky zu ihm hinaus und bot ihm zu trinken an. »Die Flasche war halb leer. Er sagte, ich müsse jetzt gehen, das Museum sei geschlossen. Ich bin hinter ihm zur Treppe gegangen. Ich habe ihn gestoßen. Ich habe, als er unten lag, den Kasten mit den Besucherzetteln an mich genommen und bin ins Erdgeschoss hinuntergelaufen, am Empfang war niemand mehr, die Tür war abgeschlossen, aber von innen ließ sie sich öffnen. Ich war frei.« Petrus Venerandus hörte kaum zu. Er betrachtete den nackt vor ihm knienden jungen Mann und dachte sich zurück in die Zeit, als er selbst davongelaufen war. Und während Domingo von seiner Flucht nach Südspanien berichtete, sah der Großabt den fünfzehnjährigen Leicester Burton über die Wiesen von Sligo laufen, dem Wind entgegen, so voller Freude über die Freiheit, für die er sich entschieden hatte, dass er weder an Geld noch an die Nacht denken konnte. Weit war er dann nicht gekommen. Ein Stück mit der Eisenbahn. Lastwagenfahrer nahmen ihn mit. Schon hundertfünfzig Kilometer tiefer im Süden waren der Magen und die Taschen leer. Jetzt sah er sich nackt knien vor den Patres, die ihn aufgenommen hatten. Sie fragten den hungrigen Jungen, der an ihrer Pforte geklingelt hatte, nicht lange, wer er sei und woher und warum. Er hatte längst keine Vorstellung mehr, wo er war, nur dass er gelaufen war, den ganzen Tag, und dass da irgendwann diese Mauern vor dem Wald standen. Patres waren a priori vertrauenswürdig. Sie konnten junge Hände brauchen, die zweiunddreißig Männer, die im Kloster mehr schlecht als recht von Selbstversorgung lebten. Fünf waren nicht aus Irland. Zwei Belgier, zwei Deutsche, ein Italiener. Leicester fragte nie, warum sie hier lebten oder was für ein Orden sie waren. Er kannte sich nur im Marienleben aus. Viele andere Jungen wie er. Abgehauen? Ja, abgehauen. Prügelnde Väter, trinkende Mütter. Streunende Kinder. Auch die irische Garda sorgte dafür, dass Jungen zu den Mönchen kamen: Die Polizisten sahen die Abtei als Kinderheim an, und die christlichen Brüder bekamen Geld für die Verwahrung der Kinder. Die machten das Klosterleben mit, beteten Laudes und Vesper , Vigilien und Komplet , lernten die lateinischen Litaneien. Vor allem aber schufteten sie auf den angrenzenden Feldern und im Wald der Abtei. Wer nicht wollte, wurde zur Arbeit geprügelt. Ein irischer Pater trug zur Disziplinierung der Kinder eine Lederpeitsche mit sich herum, deren Riemen er mit Salz einrieb, um das Brennen der Striemen auf der Haut zu verlängern. Einer der Deutschen, der sich Bruder Herbert nannte, entdeckte Leicesters Sprachbegabung und zog ihn zum gemeinsamen Lesen der Bibel, der Psalmen und Gebete heran. Er unterwies ihn in der Geschichte der Kirche und brachte ihm bei, Mariendarstellungen richtig zu deuten. Er besaß eine umfangreiche Sammlung kleiner Marienbilder und schenkte Leicester das Foto eines Altars, auf dem Maria mit einer Keule in der erhobenen Rechten stand, den Fuß auf dem unterworfenen Luzifer. Er wusste nicht, wo dieser Altar stand, nannte das Bildchen »Die Siegerin aller Gottesschlachten«. Dass aus diesen Betrachtungen eine Leidenschaft wurde, die Leicester Burton später in die großen Museen führte und überhaupt seinen Sinn für Kunst weckte, hatte Bruder Herbert nicht beabsichtigt. Er suchte die körperliche Nähe, wenn sie sich gemeinsam über Bildbände neigten, und schließlich ging er dazu über, seinen Zögling anhand beiderseitiger Geschlechtsbetrachtung aufzuklären und in die Möglichkeiten der Lusterzeugung einzuführen. Leicester schwieg und folgte. Er arbeitete im Garten und im Haus, erledigte alle ihm aufgetragenen Arbeiten und fügte sich in den absoluten Gehorsam gegenüber Gottvater, Sohn und Heiligem
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