Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fest Der Fliegen

Das Fest Der Fliegen

Titel: Das Fest Der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
Vom Netzwerk:
der Großabt nahm seinen Platz ein und wies Domingo an, sich hinzuknien und die brennende Altarkerze, die vor ihm stand, mit beiden Händen vor sein Gesicht zu heben. »Lasst uns beten«, sagte Petrus Venerandus. »Oh Gott, Vater unseres Herrn Jesus Christus, wir rufen deinen heiligsten Namen an, und bettelnd erflehen wir deine Sanftmut, dass durch die Fürbitte Mariens, der immerwährenden Jungfrau und unserer Mutter, und des ruhmreichen Erzengels Michael du uns deine Hilfe gegen Satan und alle anderen unreinen Geister, die zum Schaden der menschlichen Rasse und zum Ruin der Seelen herumwandern, gewährest. Amen.« Dann sprach er Domingo an. »Nur eine Sünde kann nicht vergeben werden, das ist der Verrat am Heiligen Geist. Was aber ist das? Verrat an der Engelslegion ist Verrat an der heiligen Mutter Maria, denn ihre Diener sind wir mit Leib und Seele. Verrat an der unbefleckten Maria aber ist Verrat an ihrem Sohn Jesus Christus, der für uns gelitten hat. Verrat an ihm aber ist Verrat an Gottvater, auf dessen Erbarmen wir angewiesen sind. Verrat an Gott aber ist Verrat am Heiligen Geist. Bedenke also, wen du verrätst, wenn du uns, deine Brüder verrätst.« Sie blickten aus den Schatten ihre Kapuzen auf ihn herab. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, nur die Stimmen würden ihm verraten, wer ihn befragte. Er fror. Die Kerze in seinen Händen zitterte, ihre Flamme erleuchtete sein Gesicht von unten, und ihr flackerndes Licht zuckte über seinen nackten Körper, sodass es für die Umsitzenden aussah, als werde sein Körper von Angst geschüttelt. Sie alle warteten darauf, ob er sich als Judas erweisen würde oder der Legion treu geblieben war. »Du trägst das Licht des Herrn in deinen Händen«, sagte der Großabt. »Sprich zu dem Licht und schwöre, dass dein Zeugnis wahr sein wird, dass du nichts entfernst noch etwas hinzufügst. Schwöre dem Licht, dass aus deinem Mund die Wahrheit kommen wird.«
    Domingo antwortete mit zitternder Stimme: »Ich schwöre es beim heiligen Licht.«
    Jetzt war die Zeit der Farben. Er spürte es. Vielleicht würden neue Gesichter kommen, doch deren Eigenschaften konnte er rasch auf einem Papierblock notieren. In diesem Augenblick aber musste die farbliche Ausführung der Bilder beginnen; als Kohleskizzen lehnten sie neben den zwei fertigen Porträts an der Wand, die das Atelier von Küche, Schlafzimmer und Bad trennte. Alle anderen Zwischenwände, die den hallengroßen Raum in Büros unterteilten, als die Stadtverwaltung noch in der Burg untergebracht war, hatte er entfernt. Zehn Vorzeichnungen. Zehn Verbrecher. Aus dunklem Hintergrund würde er sie herausarbeiten, mit groben, daumenbreiten Pinseln, die er sich seit Jahren auch für kleinere Bildformate angewöhnt hatte, kräftige Striche, satter Farbauftrag, fleckige, grob zusammengesetzte Muster, teils einander überlagernd, nass in nass gearbeitet und von der Reinheit der Grundfarben befreit – dennoch würden sie kenntlich bleiben. Die Gesichter der Täter. Als junger Mann hatte er den Pinselstrich der Meister studiert, denen er auf die Spur kommen wollte; wann immer es ging, an den Originalen von Nolde, Slevogt, Corinth und Kokoschka. Manchmal mussten Drucke reichen, an denen er den Farbauftrag mit der Lupe studierte. Jetzt wusste seine Hand, was sein Auge wollte. Er war selbst von der Geschwindigkeit verblüfft, mit der er sich zwischen den zahllosen, halb reinen, halb vermengten Farbennestern seiner Palette entschied, wie sicher sein Pinsel auf einen gemischten Ton zustieß, so, als läge alles schon bereit und müsste nicht mehr bedacht werden. Wie immer beim Malen bewegte er sich viel, trat nach zwei, drei Pinselstrichen fünf Schritte zurück, um die Veränderung begutachten zu können. In kurzer Zeit war sein Daumen, der durch das Griffloch der Palette nach oben kam, vollständig mit Farben beschmiert. Er ließ sich nicht Zeit, die Tuben zu verschließen, aus denen er die Farbfelder auf die Palette quetschte, sie lagen offen kreuz und quer auf dem langen Ateliertisch, zwischen den Schraubverschlüssen, den Lappen, der zweiten Palette und den Gläsern mit Terpentin voller Pinsel. Diesmal verwendete er keine Malmittel, weder zur Trocknungsbeschleunigung noch zur Verzögerung. Und nur die Furcht, man könne ihn bezichtigen, er maße sich an, ein Van Gogh zu sein, hielt ihn davon ab, die Farbe direkt aus der Tube auf die Leinwand zu drücken. Die Lichter auf die Augen setzte er zuletzt. Sie entschieden über die

Weitere Kostenlose Bücher