Das Fest der Schlangen
aber sie war zu beschäftigt, um mit ihm zu reden. Vielleicht würde er aufstehen, wenn sie nach Hause kam, und sie könnten ein paar Worte miteinander reden, vielleicht noch ein Glas warme Milch mit Honig trinken, was er gern mochte. Jedenfalls wäre sie froh, wieder auf der Farm zu sein und sich die Schuhe ausziehen zu können, froh, aus Brewster zu entkommen. Diese armen Frauen, Schwester Asherah, Schwester Isis und Helen Greene. Sie kannte sie alle – nicht gut, aber gut genug, um im Stop & Shop ein paar Worte mit ihnen zu wechseln. Und Nina – sie konnte den Gedanken an das Mädchen kaum ertragen. Sie war froh, auf die Farm und in die Zivilisation zurückzukehren.
Bernie lenkte ihren VW Käfer vom Parkplatz und fuhr die Cottage Street hinunter. Sie sah die beiden, als sie in die Water Street einbog: zwei Kinder, die zwischen zwei Häusern hervorgerannt kamen. Das größere zog das kleinere an der Hand hinter sich her. Was machten sie so spät hier draußen? Hatten sie keine Eltern? Dann schaute sie genauer hin. Der Junge war Hercel McGarty, und das Mädchen musste seine Schwester sein. Wie hieß sie noch? Lucy. Ihre kleinen Schuhe hatten Lichter in den Absätzen, und sie blitzten, wenn sie rannte.
Bernie hielt an und kurbelte das Fenster herunter. »Hercel! Was macht ihr um diese Zeit hier draußen?«
Hercel fing an zu schreien, als er fünf Meter vor dem Wagen war. »Er kommt, er kommt!«
Bernie überlief es kalt. Sie hatte Angst vor dem, was den beiden Angst machte, hatte Angst, weil sie Hercel zum ersten Mal anders als ruhig und gelassen sah. Sie sprang aus dem Auto, so schnell sie es in Anbetracht ihres Umfangs konnte, und klappte ihren Sitz nach vorn, damit die beiden hinten hineinklettern konnten.
Hercel schob Lucy in den Wagen. »Los, los! Ich sehe ihn schon!«
Als Bernie Gas gab, schaute sie in den Rückspiegel. Sie sah einen Schatten da hinten zwischen den beiden Häusern, wo Hercel und Lucy herausgekommen waren. Etwas auf allen vieren, vielleicht ein Kojote. Aber für einen Kojoten war es viel zu groß.
Das Telefon auf Fred Bonaldos Nachttisch klingelte um ein Uhr. Fred hörte es nicht. Nichts drang zu ihm durch, wenn er einmal schlief. Laura hörte es, und sie ließ es nicht endlos lange klingeln, sondern drehte sich um und verpasste ihrem Mann einen Rippenstoß.
»Fred, geh ans Telefon.«
Harvey Lopes vom Revier war dran. »Bei Carl Krause zu Hause ist was passiert.« Bernie Wilcox habe eben angerufen und angegeben, Carl habe seine Frau verprügelt, sie hochgehoben und durch die Gegend geworfen, und dann habe er sich auf die Kinder stürzen wollen. Der Junge sei mit seiner Schwester in sein Zimmer geflohen und habe die Tür versperrt, und dann seien sie aus dem Fenster geklettert. Carl sei aus dem Haus gelaufen und habe sie verfolgt, bis Bernie sie auf der Water Street gesehen habe. Jetzt nehme sie die beiden mit zur Farm.
»Sie sagt, Carl ist auf allen vieren rumgerannt«, berichtete Harvey. »Ich dachte, das wollen Sie wissen.«
Bonaldo hatte beinahe das Telefon fallen lassen. Auf allen vieren? Das wollte er wirklich nicht wissen. Er wollte lieber wieder schlafen. Aber er hatte allen auf dem Revier, jedem Cop in Brewster, eingeschärft, sie sollten ihn anrufen, wenn irgendetwas Merkwürdiges oder Kriminelles passierte. Deshalb konnte er niemandem die Schuld geben außer sich selbst. Einen Moment lang dachte er daran, Harvey zu sagen, er solle jemand anderen anrufen – nur wen? War er nicht schließlich hier der Polizeichef? Oder doch wenigstens der kommissarische Polizeichef?
»Ich bin in fünf Minuten da.«
»Musst du wirklich raus?«, brummte Laura auf der anderen Seite des Bettes.
Bonaldo zog sich die Hose an. »Das ist mein Job.«
»Ich dachte, wenn man der Chef ist, schickt man andere Leute.«
Er hätte gern gesagt, das gelte nicht für einen kommissarischen Chef. Stattdessen sagte er: »Es ist ein bisschen komplizierter.«
»Armer Kerl«, sagte Laura und kuschelte sich in ihr Kissen. »Du arbeitest zu viel.«
Als Bonaldo bei dem Bungalow an der Ecke Newport und Hope Street ankam, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Am Randstein standen zwei Streifenwagen der Brewster Police und Bobby Andersons Nissan 370 Z. Tussenkarre nannten die Cops in Brewster den Wagen. Bonaldo war nicht klar, wie Bobby vor ihm hatte da sein können, wenn man bedachte, dass er zehn Meilen weit weg wohnte. Ein Polizist aus Brewster, der rauchend neben seinem Wagen stand,
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