Das Fest der Schlangen
aber das ist nicht der Grund. Das ist nur Geschwätz.«
Maud Lord lebte seit fast zehn Jahren in ihrer kleinen Wohnung. Sie kannte jeden, der im Ocean Breezes arbeitete, und sie kannte viele der Bewohner. Auch wenn sie sich nie mit dem hartnäckigen Appetit des Todes hatte abfinden können, hatte sie sich doch an seinen Kalender gewöhnt – so und so viele starben im Sommer, so und so viele im Winter und so weiter.
Das alles erklärte sie Bobby. »Diesen Monat sind zu viele gestorben, und letzten Monat auch. Da stimmt etwas nicht.«
Jede Nacht, so schien es, kam der Krankenwagen und holte jemanden ab, und manchmal kam er mehr als einmal. Ob jemand lebte oder tot war, erkannte man daran, ob der Krankenwagen die Sirene einschaltete oder nicht.
»Sie fahren die Straße da draußen hinunter«, sagte Maud, »und wecken mich jedes Mal. Vorgestern Nacht sind drei Leute gestorben. Eine davon war Julie Fiore. Wir hatten am Abend noch zusammen gegessen, und sie war ein Bild der Gesundheit. Und die anderen waren zwar krank gewesen, aber nicht lebensbedrohlich. Das kommt mir unnatürlich vor.«
Bobby sah es anders, nur hatte er auf diesem Gebiet natürlich keine Erfahrung. Maud Lord hingegen beobachtete die Abgänge mit Adleraugen. Sie hatte schließlich ein persönliches Interesse.
»Das war in welcher Nacht?«, fragte er.
»Donnerstag. Ich weiß, dass es Donnerstag war, weil überall in der Stadt Polizeiautos herumfuhren und ich kein Auge zugetan habe.«
Wenn ein Bewohner starb, kam ein Arzt aus der Klinik, um den Totenschein auszustellen. War vorher nichts anderes vereinbart worden, wurde der Leichnam zu Brantleys Bestattungsinstitut gebracht.
»Kommt da ein spezieller Arzt?«, wollte Bobby wissen.
»Ich versuche schon den ganzen Nachmittag, mich an seinen Namen zu erinnern. Er fängt mit B an.«
»Dr. Jonathan Balfour?«
Maud Lord strahlte. »Sie sind so clever! Ich wusste , es war richtig, Sie anzurufen.«
»Und der kommt jedes Mal?«
»Natürlich nicht, aber er kommt öfter als jeder andere.«
»Ist Dr. Balfour mit jemandem vom Personal besonders befreundet?«, fragte Boby. »Mit einer Frau vielleicht?«
Mauds Augen glänzten. »Da wäre Margaret Hanna. Sie ist Krankenschwester.«
»Ob sie jetzt wohl Dienst hat?«
Maud schüttelte den Kopf. »Sie arbeitet nur nachts.«
Detective Beth Lajoie hasste den Regen. Sie hasste die Tropfen, die ihr in den Nacken liefen. Sie hasste ihre nassen Füße. Während ihres 1998 begonnenen fünfjährigen Einsatzes beim Dezernat für Finanzkriminalität hatte sie mitgeholfen, einen Mann zu verhaften, der eine Million unterschlagenes Geld versteckt hatte, um davon in Brasilien zu leben. Lajoie verurteilte das Verbrechen, bewunderte jedoch die Zielsetzung. Wenn sie so viel Geld hätte, würde sie nach San Pedro de Atacama in der Atacama-Wüste umziehen. Dort war es fünfzigmal trockener als im Death Valley. So sehr hasste sie den Regen.
Als sie jetzt von ihrem Wagen zum Eingang der Notaufnahme rannte, hielt sie sich eine Zeitung über den Kopf, damit ihre Haare nicht nass wurden. Fast so sehr wie den Regen hasste sie das Rennen. Sie bekam davon mächtig schlechte Laune. Sie ging zur Aufnahmetheke und klopfte mit dem Knöchel darauf. »Wo finde ich Dr. Balfour?«
Die junge Frau hinter der Theke machte ein erschrockenes Gesicht, aber so reagierten viele Leute auf Detective Lajoie. »Ich weiß nicht genau, wo er im Moment ist.«
Lajoie legte ihre Dienstmarke auf die Theke. »Die Worte › ich weiß nicht genau ‹ gefallen mir nicht. Ich will genau wissen, wo Balfour ist, und wenn Sie es mir nicht sagen können, treiben Sie jemanden auf, der es kann.«
Innerhalb von zehn Minuten stand fest, dass Dr. Balfour nicht im Hause war. Niemand wusste, wo er hingegangen war. Dann stellte sich heraus, dass Detective Gazzola eine halbe Stunde zuvor hier nach Balfour gesucht hatte. Das teilte die junge Frau in der Notaufnahme der groben Polizistin mit.
»Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«, fragte Lajoie.
Die junge Frau schaute weg. »Sie haben nicht danach gefragt.«
Manchmal war Beth Lajoies Lächeln furchterregender als ihr Stirnrunzeln. »Ich wünsche Ihnen noch einen wirklich schönen Tag«, sagte sie.
Dr. Jonathan Balfour besaß in der Ash Street eine große Eigentumswohnung im Erdgeschoss eines Hauses mit einem grünen Mansardendach. Eine säulengeschmückte Veranda reichte um die gesamte Frontseite. Balfours Wohnung betrat man durch einen Eingang an der Seite.
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