Das Fest der Schlangen
hältst.«
»Sie wollen da rein?«, fragte Hercel.
»Wenn das dazu nötig ist.«
Hercel zögerte. Mr. Krause konnte es nicht ausstehen, wenn Leute ins Haus kamen. Das machte ihn wütend und misstrauisch, und es war nicht gut, wenn er wütend wurde. Aber vielleicht war Mr. Krause nicht da, oder er war oben im ersten Stock und würde nichts hören.
»Na los, Junge«, sagte Bonaldo, »wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Hercel führte sie in den Keller.
Auf einem Tisch an der Wand stand ein Käfig, eins fünfzig mal eins zwanzig mal eins zwanzig, und darin waren Äste, eine flache Wasserschale und Zedernholzspäne. Der aufklappbare Deckel war mit einem Riegel gesichert. Das Drahtgitter war an ein paar Stellen geflickt, vermutlich da, wo die Schlange früher schon herausgekommen war. Auf dem Tisch lagen außerdem sechs Ziegelsteine, mit denen Hercel den Deckel beschwerte. Auf einem anderen Tisch sah Bobby einen kleineren Käfig mit einem Dutzend Mäuse.
»Fütterst du die Schlange mit diesen Mäusen?«
»Eigentlich nicht.«
Bobby hob den Deckel des Schlangenkäfigs hoch. »Was heißt › eigentlich nicht ‹ ?«
»Ich züchte die Mäuse, und dann bringe ich sie in die Tierhandlung und tausche sie gegen andere Mäuse. Fremde Mäuse.«
»Woher weißt du, dass der Mann dir nicht deine eigenen Mäuse zurückgibt?«
»Es ist eine Frau, und ich glaube nicht, dass sie das tun würde.«
»Aber sicher bist du nicht?«
»Ziemlich sicher.«
»Wollen Sie keine Fotos machen oder so was?«, fragte Bonaldo.
»Ich rufe nachher die Spurensicherung an.«
Man hörte Schritte auf der Treppe, und eine Stimme schrie: »Hände hoch oder ich schieße!«
Bobby sah einen nervös wirkenden Mann, der mit einer Schrotflinte auf ihn zielte. Er hatte immer schon vermutet, wenn er als Trooper ums Leben käme, wäre es in einer Situation wie dieser, nicht auf den Highway. Er holte tief Luft. »Mein Name ist Robert Anderson, und ich bin Detective der State Police. Das ist Fred Bonaldo, der Polizeichef von Brewster. Die Schlange Ihres Sohnes wurde gestohlen, und er zeigt uns die Räumlichkeiten. Ich wusste nicht, dass Sie zu Hause sind. Legen Sie doch das Gewehr weg, dann kann ich Ihnen meinen Ausweis zeigen.« Bobby sprach sehr ruhig, aber ihm war nicht ruhig zumute. Der Mann auf der Treppe war an die eins neunzig groß und massig. Er hatte zerzaustes Haar, trug ein fleckiges T-Shirt und Jeans und sah nicht aus, als wäre er bei Sinnen.
»Erzählen Sie keinen Scheiß. Erwarten Sie, dass ich glaube, der Polizeichef und ein Detective der State Police suchten die verschwundene Schlange eines kleinen Jungen? Lassen Sie die Hände oben.«
Hercel zupfte an der Tasche von Bobbys Sharkskin-Jackett. »Das ist nicht mein Dad, das ist Mr. Krause. Er hat meine Mom geheiratet.«
4
Dr. Joyce Fuller stieß mit einem Bleistift auf ein gelbes Post-it-Blöckchen, das am unteren Rand den Aufdruck Einen schönen Tag! trug. Sie stieß immer wieder zu, bis die Punkte zu einem schwarzen Fleck wurden, und stieß weiter, bis der Bleistift abbrach. Sie war eine attraktive Frau von der nahtlosen Sorte und sah aus, als wäre sie aus standardisierten Einzelteilen zusammengesetzt, als ob Haare, Make-up, Hände, Füße und der aerodynamisch modellierte Körper die Nacht in separaten Schachteln verbrächten, statt zusammen in einem Bett. Sie war dreiundvierzig Jahre alt und leitete das Morgan Memorial Hospital seit zwei Jahren. Jetzt war ihre Karriere zu Ende.
Bis zum heutigen Morgen hatte sie ihre Sache gut gemacht. Das Krankenhaus hatte einen unzureichenden Etat, und sie hatte gespart, wo sie konnte. Leider hatte zu ihrem Sparprogramm auch die Entscheidung gehört, kein Säuglingsschutzsystem zu erwerben, bei dem am Knöchel des Neugeborenen kleine Marken befestigt wurden, die Alarm auslösten, wenn das Kind von der Station entfernt wurde. Die Kliniken in Providence und Boston hatten so etwas, aber in Brewster gab es im Vergleich zu den großen Städten nur einen Bruchteil der Entbindungen, nämlich ungefähr achtzig im Jahr. Das war zu wenig, um die Kosten zu rechtfertigen. Kriminalität gab es am Ort fast gar nicht, außer in den Sommermonaten, und andere Posten waren notwendiger erschienen. Doch das war gestern gewesen. Inzwischen war das Undenkbare passiert. Jetzt war es halb neun am Donnerstagmorgen, und sie hatte eben eine Firma angerufen, die solche Systeme verkaufte: Nachdem das Kind in den Brunnen gefallen war, deckte sie ihn zu, würden die Leute
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