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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Dobyns
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etwas tun können, wird Ihr Leben ein Trümmerfeld bleiben.«
    Es war nach Mitternacht, als er sich verabschiedete. Später zog Bobby Anderson ihn damit auf. »Dr. Woody«, nannte er ihn und sagte: »Sie ist eine attraktive Frau. Warst du in Versuchung?«
    »Das darfst du nicht mal denken«, sagte Woody.
    Donnerstagnacht lag Carl Krause oben in seinem Zimmer im Bett, die Hände neben sich ausgestreckt, und knurrte. Es war ein Vibrieren in seiner Kehle, ein flüssiges Pulsieren in der Tiefe des Mundes. Er merkte es selbst kaum. Wenn Baldo Bonaldo eine Verwandtschaft mit Vampiren verspürte, so hatte Carl Krause eine gewisse Nähe zu Werwölfen, auch wenn es ihm nicht bewusst war. Als er im Bett lag und an Bobby Anderson dachte, knurrte er. Als er an den dicken Jungen dachte, der ins Kellerfenster geschaut hatte, knurrte er. Hätte man ihn gefragt, was er da tue, hätte er vielleicht gesagt: »Nachdenken«, denn Nachdenken war für Carl so etwas wie Knurren geworden. Als er an den Streit mit seiner Frau dachte und daran, wie er sie geschlagen hatte, knurrte er.
    Es erscheint sonderbar, dass er sich so gekränkt fühlte – als wären Bobby, Baldo und Harriet seine Quälgeister, drei Namen auf einer langen Liste von Quälgeistern. Wenn jemand so denkt, tut er es oft, weil er glaubt, er könnte sich nicht erklären, und andere würden ihn einfach nicht verstehen. Aber das war nicht Carls Problem. Er war gekränkt, weil manche Leute existierten. Jenseits der Wände seines Zimmers im ersten Stock sprachen diese Leute miteinander, das wusste er. Und um wen ging es in ihren Gesprächen? Natürlich um ihn: um Carl Krause.
    Wenn er stilllag, konnte er sie hören. Manchmal war sein Hörvermögen so scharf, dass er sie draußen auf dem Gehweg hören konnte, sogar ein ganzes Stück die Straße hinunter. Doch heute Nacht hörte er sie unten im Haus, und manchmal auch auf der Treppe, wenn sie sich seiner Tür näherten: ein einzelnes knarrendes Dielenbrett, ein Scharren. Dann sprang Carl aus dem Bett, rannte zur Tür und riss sie auf. Aber er war nie schnell genug; sie waren weg. Er schlug die Tür zu, um diese Leute zu warnen: Er wisse, was sie da trieben. Dann ging er wieder ins Bett und wartete. Wieder hörte er das Raunen von Stimmen wie wisperndes Laub, und wieder knurrte er.
    Das Wispern wurde lauter, das Knarren der Treppe wurde lauter, und Carl stürzte erneut zur Tür und riss sie auf.
    Dachte er daran, wie es sich für seine Frau und seine Stiefkinder anhören musste, die unten saßen und versuchten fernzusehen und später in ihren Betten lagen? Wie sie in der Dunkelheit ihrer eigenen Zimmer an die Decke starrten? Nein, niemals. In diesen Tagen sah er seine Frau und seine Stiefkinder kaum noch als Personen, als menschliche Wesen; vielmehr waren sie Ausflüsse einer unbekannten Quelle. Sie waren die Tentakel irgendeines größeren Wesens. Sie zu sehen war so, als sähe man Finger und stellte sich die Hand vor, als sähe man Krallen und dachte sich die Pranke, den grob bepelzten Arm und die kraftvolle Schulter. Oh, Carl wusste, dass das alles zusammenhing, wie auch die Augen, die über die Decke wanderten, zusammenhingen. Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn die ganze Stadt zusammenhinge und ein einziges Wesen bildete, eine einzige Monstrosität. Er behauptete nicht, dass es so war. Er sagte nur, er wäre nicht überrascht.
    Carl hatte das Glück, dass er nicht von Zweifeln geplagt wurde. Das war nicht immer so, aber fast immer. Wenn er Zweifel gehabt hätte, wäre er besorgt und furchtsam gewesen. Doch die Gewissheit machte ihn stark. Schwäche war das, was er vor zehn Tagen erlebt hatte, vor zwei Wochen, im letzten Monat. Er hatte schon befürchtet, dass da etwas nicht stimmte, wie damals in Oswego. Er hatte sich nicht konzentrieren können. Er hatte geweint. Er hatte sich eingebildet, schreckliche Dinge wären passiert, und er war zum Arzt gegangen. In dieser dunklen Zeit hatte er seine Gewissheit verloren. Herausgekommen war er wie ein Kind – schwach und beunruhigt und abhängig von anderen. Er hatte gelächelt und ihnen ihren Willen gelassen. Es war sein langes Exil von ihm selbst.
    Aber die Nervosität war vergangen. Die Kindlichkeit, das mädchenhafte Benehmen, das Weinen, das alles war vorbei. Er hatte gespürt, dass die Gewissheit in ihm wuchs wie eine Faust. Da war er dann nach oben umgezogen. Er musste allein sein, damit er denken konnte, und das bedeutete zu knurren.
    Jeden Morgen bei Tagesanbruch, wenn es

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