Das Fest der Schlangen
nicht regnete, führte Steve Tovaldis seine beiden gelben Labradorhunde Willie und Sophie auf der Liberty Lane spazieren, vorbei an den kleinen Häusern und Rasenfarmen bis zu den Bahngleisen und dann an den Gleisen entlang bis zum Sumpf. Jeden Morgen donnerte der Acela-Express von Boston nach New York vorbei, und die Hunde bellten sich die Seele aus dem Leib. Anfangs hatten sie Angst gehabt, aber jetzt gefiel ihnen der Zug, und sie warteten darauf, dass er kam. Der Zug brüllte, und sie bellten zurück. Es war ein Gespräch.
Tovaldis ging gern auf dem Feldweg in den Sumpf hinein, manchmal bis zum Worden Pond, nur nicht im Mai, wenn die Mücken schlüpften und besonders blutgierig waren. Die vielen tausend Frösche fraßen so viele, wie sie konnten, doch sie kamen einfach nicht mit. Tovaldis kaufte sich ein ganzes Fass »Ben’s Max 100 «-Insektenspray und sprühte sich das Zeug überall auf den Schädel, sogar wenn er eine Mütze trug, denn Tovaldis war kahl wie eine Billardkugel, wodurch er, wie er gern erzählte, ein Vermögen am Friseur sparte: 15 Dollar alle drei Wochen, 250 Dollar im Jahr, 3000 Dollar in zwölf Jahren. Beim bloßen Addieren dieser Zahlen bekam er Lust, loszugehen und sich etwas zu kaufen.
Ein kurzes Stück hinter der Abzweigung zum Schießplatz rannten Willie und Sophie los und bellten wie verrückt. Tovaldis rannte hinterher und rief ihre Namen. Er hatte Angst, sie könnten einen Kojoten gesehen haben und ihn in den Sumpf verfolgen. Willie hatte das einmal allein getan und war zerkratzt und zerbissen zurückgekommen. Tovaldis stellte sich vor, wie ein einzelner Kojote auftauchte und die Hunde in den Sumpf lockte. Dort würde ein ganzes Rudel Kojoten über sie herfallen. Er wusste, dass es so war, aber es war schwer, jemanden davon zu überzeugen. Andererseits, als er dreißig Jahre zuvor an die Liberty Lane gezogen war, hatte es hier keine Kojoten gegeben. Erst später hatten sie sich hereingeschlichen. Jetzt machte er sich nicht mal mehr die Mühe, eine Katze zu halten. Die Kojoten hatten fünf Stück umgebracht. Entweder die Kojoten oder die Marder.
Die Hunde waren an einem blauen Ford Focus stehen geblieben, der hinter der Schranke parkte. Wie er dahin gekommen war, wusste Tovaldis nicht, denn die Schranke war neunundneunzig Prozent der Zeit geschlossen. Er lief langsamer und rief die Hunde. Dann schrie er: »Die sind freundlich!« Manche Leute hatten Angst vor großen Hunden, aber Willie und Sophie taten keiner Fliege etwas zuleide. »Sie beißen nicht!«, fügte er noch hinzu.
Als er auf den Wagen zuging, sah Tovaldis, dass jemand auf dem Fahrersitz saß. Vermutlich hatte der Mann geschlafen, zumindest bis die Hunde mit ihrem Getöse angekommen waren. Tovaldis hatte das Gefühl, dass diese Hunde auf ihrem Weg durch das Leben immer nur nach einer Gelegenheit zum Bellen suchten, als wäre das ihre Hauptbeschäftigung. Vielleicht war der Fahrer auf der anderen Seite der Schranke eingesperrt worden und hatte es vorgezogen zu warten, bis am nächsten Morgen ein Ranger käme. Persönlich war Tovaldis ja nie imstande gewesen, in einem Auto zu schlafen.
Der Wagen war rückwärts bis an die Schranke herangefahren. Die Schranke bestand aus einer grünen Eisenstange, die sich quer über den Fahrweg spannte. Tovaldis ging vorsichtig außen herum und achtete darauf, nicht in den Matsch zu treten. »Platz!«, brüllte er. Die Hunde sprangen am offenen Seitenfenster hoch, und es würde Ärger geben, wenn sie den Lack zerkratzten.
Im ersten Moment war er überrascht, dass jemand bei dem Lärm, den Willie und Sophie machten, überhaupt weiterschlafen konnte. Sie sprangen um den Wagen herum und bellten wie verrückt, und ihr Rückenfell war gesträubt. Dann sah er den rostroten Smiley auf dem Seitenfenster. Darauf konnte er sich keinen Reim machen. Er beugte sich vor und sah, dass der Mann sich sein ganzes hübsches Hawaiihemd mit dieser rostroten Farbe bekleckert hatte. Tovaldis bückte sich tiefer und sah erstaunt, dass die Haare des Mannes die gleiche Farbe hatten wie das Zeug auf seinem Hemd. Aber nein, das stimmte nicht. Der Mann hatte keine Haare. Er war skalpiert.
6
Wenn in einer Kleinstadt ein schreckliches Verbrechen geschieht, ist das eine Tragödie. Ein zweites ist ein Fluch.
Der Mord an Ernest Hartmann setzte viele Leute in unerwartete Richtungen in Bewegung. Leute, die sicher zu wissen geglaubt hatten, wie der Tag für sie verlaufen würde, sahen sich jählings auf einem ganz anderen
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