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Das Fest der Zwerge

Das Fest der Zwerge

Titel: Das Fest der Zwerge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Polzin
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am Abend hereingeholt hatte. Ist es im Haus auch ordentlich genug? Die Sorge drängte sie aufzustehen und nachzusehen, aber die Furcht war stärker. Sie konnte sich nicht bewegen und nur noch mühsam atmen. Jetzt wusste sie, dass die Sorge ihrer Mutter wohlbegründet und die Legende der Wilden Jagd keine Mär gewesen war.
    Die Zeit verstrich unter Lanaars unregelmäßig grunzenden Atemzügen. Er schien nichts von dem Grauen zu bemerken, das das kleine Gehöft in dieser Nacht heimsuchte. Als die Wilde Jagd zum vierten Mal über das Dach der Hütte hinwegpreschte, erhoben sich die Dämonen und Geister vom Hof und schlossen sich wieder dem Heer an.
    Myriah atmete auf. Eine Weile saß sie noch aufrecht im Bett und lauschte in die Nacht hinaus, aber das Lärmen war verstummt. Die Wilde Jagd war weitergezogen. Sie legte sich wieder hin, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Zu sehr steckte ihr der Schrecken noch in den Gliedern, zu aufgewühlt waren ihre Gedanken. Wenn es die Wilde Jagd wirklich gab, überlegte sie, dann waren vielleicht auch alle anderen Legenden wahr, die sich um die Zwölfnächte rankten. Der Gedanke ließ ihr keine Ruhe. Sie spürte, dass da etwas in ihrer Erinnerung verborgen war. Etwas sehr Wichtiges, das sie einst gewusst, aber wieder vergessen hatte.
    Je länger sie darüber nachgrübelte, desto unruhiger wurde sie. Schließlich schlüpfte sie aus dem Bett, warf sich zum Schutz gegen die Kälte im Haus ihren Mantel über und schlich auf bloßen Füßen zu der Truhe, in der sie ihre Habseligkeiten aufbewahrte. Sie musste Gewissheit haben.
    Der schwere Deckel knarrte, als sie ihn anhob. Erschrocken hielt sie inne und lauschte, aber Lanaar schien es nicht gehört zu haben. Grunzend drehte er sich auf die andere Seite und schnarchte weiter.
    Myriah öffnete die Truhe und tastete im Innern nach dem einzig Wertvollen, das sie besaß. Einem dicken, ledergebundenen Buch voller Legenden, eines der wenigen Erbstücke, die sie von ihrer Mutter erhalten hatte.
    Mit dem Buch in der Hand ging sie zum Fenster. Den Truhendeckel ließ sie offen, weil sie fürchtete, Lanaar könne erwachen, wenn dieser noch einmal knarrte. Im Mondlicht waren die Schriftzeichen im Buch kaum zu erkennen. Myriah entzündete eine Kerze an der Glut im Kamin, trug das Talglicht zum Tisch und begann zu lesen. Die meisten Seiten überflog sie nur. Aber als sie auf die Legenden der Zwölfnächte stieß, widmete sie sich diesem Teil genauer. Da gab es Unheimliches von Wuotan und der Wilden Jagd zu lesen, von Dämonen und Geistern, die in dieser Zeit umgingen, von Menschen, die sich in den Zwölfnächten in Werwölfe verwandelten. Aber auch Versöhnliches: von Frauen, denen in diesen Nächten an einem Kreuzweg ihr künftiger Bräutigam begegnet sein sollte, und von Kindern, die geboren wurden und denen man magische Fähigkeiten nachsagte.
    Doch all das war es nicht, wonach sie suchte. Erst als sie weiterblätterte, fand sie es. Das Buch war alt und die Schrift an dieser Stelle besonders abgegriffen. Myriah musste die Kerze dicht an das Papier halten, um sie lesen zu können. In einem kurzen Abschnitt ganz unten auf der rechten Seite stand:
    Die Tiere im Stalle, so saget man, sollen um Mitternachte die menschliche Sprache sprechen und sich über die Zukunft erzählen.
    Das war es. Myriahs Herz begann vor Aufregung drängend zu pochen. Ihre Erinnerung hatte sie nicht getäuscht. Dass die Tiere in den Ställen zu bestimmten Zeiten sprechen könnten, hatte sie bisher auch immer für ein Märchen gehalten. Nun aber war sie entschlossen, die Wahrheit herauszufinden. Sie musste Gewissheit haben, was die Zukunft für sie bereithielt, und darüber, ob sie Lanaar wirklich nie ein Kind gebären würde. Dafür blieb ihr jedoch nicht mehr viel Zeit. Mitternacht war nahe und der Stall noch viele Schritte entfernt. Mit dem Taglicht in der Hand schlich Myriah zur Haustür, schlüpfte in die geschnitzten Holzschuhe und trat hinaus.
    Das Taglicht flackerte im Wind und erlosch, als sie die Tür leise hinter sich schloss. Sie erschrak, aber der Mond spendete genug Licht. Ein Blick über den Hof zeigte ihr, dass die Schatten wirklich fort waren. Die Wilde Jagd war nicht zurückgekehrt. Die Nacht war frostklar und still. Nichts rührte sich in den Büschen und Bäumen, die das kleine Gehöft umgaben. Dennoch musste Myriah allen Mut zusammennehmen, um die vierzig Schritte von der Hütte bis zum Stall zu wagen. Die eisige Luft kroch unter ihren Mantel und ließ sie

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