Das Fest der Zwerge
in der längsten Nacht des Jahres hat die Zeit sich geschüttelt, und die Erde ist erschaudert und hat einen Mythos geboren. Und was hat der Mythos gekreischt? Prosit Neujahr! Gott, ja, Neujahr ist nicht der erste Januar. Neujahr ist der Geburtstag von Jesus Christus. Sein Atem steigt uns in die Nase, lieblich wie Klee, und verheißt uns den Frühling, just in diesem Augenblick vor Mitternacht. Du musst tief einatmen, Thomas.«
»Halt den Mund!«
»Warum denn? Hörst du schon wieder Stimmen?«
Ja! Ich drehte mich um zum Fenster. In sechzig Sekunden brach der Tag der Geburt des Herrn an. Gibt es eine Stunde, die reiner, die einzigartiger wäre, dachte ich versonnen, um sich etwas zu wünschen?
»Tom …« Charlie packte mich am Ellbogen. Aber ich war weit fort und in der Tat sehr versonnen. Ist das eine besondere Zeit?, dachte ich. Wandeln in Nächten, da der Schnee fällt, heilige Geister umher und erweisen uns Gefälligkeiten in dieser Stunde, die uns so denkwürdig scheint? Wenn ich mir heimlich etwas wünsche, wird diese von Traumgedanken und alten Schneestürmen bevölkerte Nacht mir meinen Wunsch zehnfach erfüllen?
Ich schloss die Augen. Der Hals war mir wie zugeschnürt.
»Tu's nicht«, sagte Charlie.
Doch es bebte auf meinen Lippen. Ich konnte nicht mehr warten. Jetzt, dachte ich, brennt ein fremder Stern in Bethlehem.
»Tom«, keuchte Charlie, »um Christi willen!«.
Christus, ja, dachte ich und sprach: »Mein Wunsch ist, für eine Stunde heute Nacht …«
»Nein!« Charlie versetzte mir einen Schlag, damit ich den Mund hielt.
»… bitte, mach meinen Vater wieder lebendig.«
Da schlug die Uhr auf dem Kaminsims zwölf Mal, und es war Mitternacht.
»Oh, Thomas …«, seufzte Charlie. Ermattet ließ er meinen Arm los. »Oh, Tom.«
Eine Schneewehe klirrte gegen das Fenster, blieb darauf liegen gleich einem Leichentuch und zerfiel nach und nach.
Die Haustür sprang weit auf.
Ein Schwall von Schnee brach über uns herein.
»Was für ein trauriger Wunsch. Und … er ist soeben wahr geworden.«
»Wahr?« Ich fuhr herum und starrte auf die offene Tür, die winkte wie ein Grab.
»Geh nicht, Tom«, sagte Charlie.
Die Tür fiel krachend ins Schloss. Draußen rannte ich los; o Gott, und wie ich rannte.
»Tom, komm zurück!« Die Stimme verhallte hinter mir im weißen Flockenwirbel. »O Gott, tu's nicht!«
Doch in dieser Minute nach Mitternacht rannte und rannte ich, wie von Sinnen, stammelnd, schreiend, dass mein Herz weiterschlagen soll, mein Blut kreisen, meine Beine rennen und nicht aufhören zu rennen, und ich dachte: Er! Er! Ich weiß, wo er ist! Wenn das Geschenk mein ist! Wenn der Wunsch wahr wird! Ich kenne seinen Aufenthalt. Und da begannen ringsum in der nächtlich verschneiten Stadt die Weihnachtsglocken zu läuten, zu jubeln, zu brausen. Sie umkreisten mich, eilten dahin und trieben mich an, und ich schrie, den Mund voll Schnee, und erkannte den Wahnwitz meines Begehrens.
Dummkopf!, dachte ich. Er ist tot! Kehr um!
Doch was, wenn er lebt, eine Stunde heute Nacht, und ich ginge nicht hin, um ihn zu suchen?
Ich war aus der Stadt heraus, ohne Hut und ohne Mantel, aber ganz erhitzt vom Laufen; mein Gesicht war von einer salzigen Maske aus Reif überzogen, die unter dem Aufprall meiner Schritte zersprang und abbröckelte, während ich mitten auf einer leeren Straße dahinging und der fröhliche Glockenklang verwehte und verhallte.
Ein Windstoß fegte mich um eine letzte wüste Ecke, wo mich eine dunkle Mauer erwartete.
Der Friedhof.
Ich stand vor den schweren Eisengittern und schaute benommen hindurch.
Der Gottesacker sah aus wie die Ruinen einer vor Menschengedenken in die Luft gesprengten altertümlichen Festung, als lägen die Grabsteine tief unter einer neuen Eiszeit begraben.
Plötzlich waren keine Wunder mehr möglich.
Plötzlich war es einfach eine Nacht mit zu viel Wein, Gerede und Hokuspokus, und ich rannte ohne Grund, außer dass ich glaubte, wahrhaftig glaubte, ich hätte gespürt, dass etwas sich ereignete dort draußen in der schneetoten Welt …
Nun aber lastete der blinde Anblick jener unberührten Gräber und des unbetretenen Schnees so schwer auf mir, dass ich mit Freuden niedergesunken und selber dort gestorben wäre. Ich konnte doch nicht umkehren, zurück in die Stadt, und Charlie in die Augen sehen. Schon kam mir der Verdacht, das Ganze sei ein grausamer Streich, ein übler Trick von ihm, seine aberwitzige Gabe, die schrecklichen Nöte eines anderen zu
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