Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fest der Zwerge

Das Fest der Zwerge

Titel: Das Fest der Zwerge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Polzin
Vom Netzwerk:
groteske Mobiliar in seinem Kopf bildeten. Er musste sich die furchtbarste von allen Fragen gestellt haben: Wer hat mir das angetan?
    Er schlug die Augen auf. Sein Blick traf mich wie ein Schlag.
    Du?, fragte dieser Blick.
    Ja, dachte ich. Ich war es, der sich gewünscht hat, dass du heute Nacht zum Leben erwachst.
    Du!, schrien sein Gesicht und sein Körper.
    Und dann, halblaut, die letzte bohrende Frage: »Warum …?«
    Nun war es an mir, verdammt und zerrissen zu sein.
    Ja, wirklich, warum hatte ich ihm das angetan?
    Wie hatte ich es nur wagen können, mir diese schreckliche, diese qualvolle Begegnung zu wünschen?
    Was sollte ich jetzt anfangen mit diesem Mann, diesem Fremden, diesem alten, verwirrten, verängstigten Kind? Warum hatte ich ihn heraufbeschworen, bloß um ihn wieder zurückzuschicken in die Erde, das Grab und den grausigen Schlaf?
    Hatte ich nur eine Sekunde lang an die Konsequenzen gedacht? Nein. Es war die pure Unbesonnenheit gewesen, die mich wie einen tumben Stein zu einem tumben Ziel geschleudert hatte, fort aus meinem Heim, hinaus auf diesen Gottesacker. Warum? Weshalb?
    Da stand mein Vater, dieser alte Mann, nun im Schnee und wartete zitternd auf meine erbärmliche Antwort.
    Und ich, wieder Kind, brachte kein Wort heraus. Etwas in mir kannte eine Wahrheit, die ich nicht auszusprechen vermochte. Nach der Sprachlosigkeit, die zwischen uns geherrscht hatte, solange er lebte, sah ich mich jetzt, im Angesicht dieses wandelnden Leichnams, noch mehr mit Stummheit geschlagen.
    Die Wahrheit raste mir im Kopf herum, schrie durch die Fasern meines Geistes und meines ganzen Seins und kam mir doch nicht über die Lippen. Ich fühlte Schreie, die in meinem Inneren gefangen waren.
    Der Augenblick ging vorüber. Bald wäre diese eine Stunde vorbei. Dann hätte ich nie mehr Gelegenheit, zu sagen, was gesagt werden musste, was hätte gesagt werden müssen, als er noch warm und auf der Erde war, vor so vielen Jahren.
    Irgendwo, weit fort im Lande, schlugen die Glocken halb eins in dieser Nacht von Christi Geburt, und die Zeit verrann im Wind. Noch immer trieben mir die Schneeflocken ins Gesicht und die Zeit, die Splitter von kalter, kalter Zeit.
    Warum?, fragten die Augen meines Vaters.
    »Ich –«, doch mir stockte der Atem.
    Denn seine Hand umfasste meinen Arm jetzt noch fester. Sein Gesicht gab sich selbst die Antwort.
    Dies war auch für ihn die Gelegenheit, auch für ihn war es die letzte Stunde, um zu sagen, was hätte gesagt werden sollen, als ich zwölf oder vierzehn war oder sechsundzwanzig. Mochte ich auch dastehen und schweigen. Hier, im rieselnden Schnee, konnte er seinen Frieden machen und davongehen.
    Sein Mund öffnete sich. Es fiel ihm schwer, furchtbar schwer, die alten Worte über die Lippen zu bringen. Nur der Geist in der welken Hülle konnte es wagen, sich zu widersetzen und zu keuchen. Er flüsterte drei Worte, die im Winde verwehten.
    »Ja?«, drängte ich.
    Er hielt mich fest und versuchte die Augen offen zu halten in der Schneesturmnacht. Er wollte schlafen, doch sein Mund sprang auf, und wieder und wieder stieß er hervor: »Ich .. .bbe … iiiiiich …!«
    Er brach ab, zitterte, zermarterte sich den Leib und versuchte vergeblich, es zu rufen: »Ich … bbbe … ch …!«
    »Oh, Dad«, rief ich. »Ich will es für dich sagen!«
    Er stand ganz still und wartete.
    »Wolltest du sagen: Ich – liebe – dich?«
    »Aaaaaa!«, rief er. Und dann brachte er es endlich ganz deutlich hervor: »O ja!«
    »Oh, Dad«, sagte ich, außer mir vor Kummer und vor Glück, vor so viel Gewinn und Verlust. »Oh, Papa, lieber Papa, und ich liebe dich.«
    Wir fielen uns um den Hals. Wir hielten einander fest.
    Ich weinte.
    Und dann sah ich, dass auch mein Vater aus irgendeinem seltsamen, in seinem grausigen Fleisch verborgenen Quell Tränen hervorpresste, die zitternd und blitzend an seinen Lidern hingen.
    Und so war die letzte Frage gestellt und beantwortet.
    Warum hast du mich hierher gebracht?
    Warum der Wunsch, warum die Geschenke und warum diese Schneenacht?
    Weil wir, bevor die Türen für immer verschlossen und versiegelt blieben, sagen mussten, was wir im Leben niemals gesagt hatten.
    Und nun war es gesagt, und wir standen in der Ödnis und hielten einander im Arm, Vater und Sohn, Sohn und Vater, die Teile des Ganzen, auf einmal austauschbar geworden in ihrer Freude.
    Die Tränen auf meinen Wangen erstarrten zu Eis.
     

Andreas

Weitere Kostenlose Bücher