Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fest der Zwerge

Das Fest der Zwerge

Titel: Das Fest der Zwerge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Polzin
Vom Netzwerk:
erraten und damit zu spielen. Hatte er etwa doch hinter meinem Rücken geraunt, Versprechungen gemacht, mich zu diesem Wunsch gedrängt? Gott!
    Ich berührte das mit einem Vorhängeschloss versehene Tor.
    Was war hier? Nichts als eine steinerne Platte mit einem Namen und GEBOREN 1888, GESTORBEN 1957 – eine Inschrift, die selbst an Sommertagen nur schwer zu finden war, denn das Gras wuchs dicht, und eine dicke Laubschicht bedeckte die Stelle.
    Ich ließ das Eisentor los und drehte mich um. Doch da, im nächsten Moment – mir stockte der Atem. Unfassbar! Ein Aufschrei des Entsetzens entfuhr meiner Kehle.
    Denn ich hatte etwas gespürt, dort, jenseits der Mauer, nahe der kleinen, mit Brettern vernagelten Pförtnerloge.
    Atmete da jemand leise? Ein gedämpfter Klagelaut?
    Oder nur ein lauer Lufthauch?
    Ich umklammerte das Eisentor und starrte hindurch.
    Ja, dort. Eine kaum sichtbare Spur, als hätte sich ein Vogel niedergelassen und sei zwischen den begrabenen Steinen entlanggetrippelt. Einen Augenblick später, und ich hätte es für immer verpasst.
    Ich schrie, ich rannte, ich sprang.
    Ich war in meinem ganzen Leben, o Gott, noch nie so hoch gesprungen. Ich sprang über die Mauer und landete auf der anderen Seite, und ein letzter Schrei riss mir die Lippen auseinander. Ich kroch um das Pförtnerhäuschen herum.
    Dort, im Schatten, im Windschutz, war ein Mann; er lehnte an einer Mauer, hatte die Augen geschlossen und die Hände über der Brust gekreuzt.
    Ich starrte ihn fassungslos an. Wie von Sinnen beugte ich mich vor, um besser sehen zu können, um zu erkennen.
    Der Mann war mir fremd.
    Er war alt, sehr alt.
    In meinem neuerlichen Entsetzen hatte ich wohl aufgestöhnt.
    Denn nun hob der alte Mann die zuckenden Lider.
    Es waren seine Augen, die mich ansahen und mich ausrufen ließen: »Dad!«
    Ich stolperte zu ihm hin, wollte ihn ins düstere Licht der Laterne und des nachmitternächtlich fallenden Schnees zerren.
    Von sehr weit weg, aus der verschneiten Stadt, hallte flehend Charlies Stimme: Nein, tu's nicht, lauf, renn weg, Albtraum. Halt.
    Der Mann, der vor mir stand, kannte mich nicht.
    Gleich einer Vogelscheuche, die den Wind vertreiben soll, suchte seine fremde und dennoch vertraute Gestalt mich mit ihren weißblinden, spinnennetzverhangenen Augen auszumachen. Wer?, schien er zu denken.
    Und auf einmal entrang sich seiner Kehle die Antwort.
    »… om!«, schrie er. »… om!«
    Er konnte das T nicht aussprechen.
    Aber es war mein Name.
    Schaudernd, wie einer, der am Rande eines Abgrunds steht und Angst hat, die Erde könnte nachgeben und ihn zurückwerfen in die Nacht und ins Grab, griff er nach mir.
    »… om!«
    Ich hielt ihn fest. Er konnte nicht fallen.
    Gefesselt in stürmischer Umarmung, unfähig, einander loszulassen, so standen wir da und wankten leise hin und her, seltsam, zwei Männer verschmolzen zu einem, in einer Wüste aus rieselndem Schnee.
    Tom, o Tom, klagte er immer wieder mit brüchiger Stimme.
    Vater, o mein lieber Papa, Dad, vermeinte ich zu sagen.
    Der alte Mann erstarrte, denn wahrhaftig, erst jetzt schien er über meine Schulter hinweg die Steine, den verlassenen Gottesacker erblickt zu haben. Er keuchte, also ob er schreien wollte: Was ist das für ein Ort?
    So alt sein Gesicht auch war, im Moment der Erkenntnis und Erinnerung welkten seine Augen, die Wangen, der Mund und wurden noch älter, und er sagte nein.
    Er wandte sich mir zu, als ob er eine Antwort suchte oder einen Menschen, der über seine Rechte wachte, einen Beschützer, der mit ihm zusammen nein sagen könnte. Doch in meinen Augen stand nur die kalte Wahrheit geschrieben.
    Nein, nein, nein, nein, nein, nein !
    Die Worte schossen ihm aus dem Mund.
    Doch er konnte das N nicht aussprechen.
    »… ei … ei … ei … ei … ei … ei …!« Wie Trommelfeuer brach es aus ihm hervor.
    Wie der Schrei eines verlassenen, bestürzten Kindes, das vor Angst pfeift.
    Dann überschattete eine nächste Frage sein Gesicht.
    Ich kenne diesen Ort. Aber warum bin ich hier?
    Er umklammerte seine Oberarme. Er starrte hinab auf seine welke Brust.
    Gott macht uns fürchterliche Geschenke, und das fürchterlichste von allen ist die Erinnerung.
    Er erinnerte sich.
    Und dann begann er langsam dahinzuschmelzen. Ihm fiel wieder ein, wie sein Körper verwelkt, wie sein schwaches Herz stehen geblieben, wie ein Tor zu ewiger Nacht krachend ins Schloss gefallen war.
    Er stand ganz still in meinen Armen, seine Lider flackerten über den Dingen, die das

Weitere Kostenlose Bücher