Das Fest der Zwerge
Gasthof im Dorf ein Zimmer genommen, immer dasselbe, mit einem Blick auf den Bach hinter dem Haus, an dessen Ufer sich stets ein paar Enten und Gänse zu schaffen machten, selbst im Winter.
Zum Schluss hatte Lena nur noch verfolgen können, wie der Geist ihres Vaters zerfiel, und als schließlich der Anruf der Heimleiterin kam, er sei friedlich eingeschlafen, war es beinah eine Erlösung gewesen. Lena ließ ihn neben ihrer Mutter begraben, deren Tod zwölf Jahre zuvor sie zum Anlass genommen hatte, ihrem Studium der Germanistik den Rücken zu kehren, wieder nach Hause zu ziehen und ihrem Vater den Haushalt zu führen, da er das selbst nicht gekonnt hätte; er hatte noch zu jener Generation gehört, die in haushälterischer Hilflosigkeit gehalten worden war. Ohne Lena wäre ihm damals nur der Weg ins Altersheim geblieben, und sie wusste, dass er ihr für ihren Entschluss dankbar gewesen war, wenngleich er es nie ausgesprochen hatte.
Allerdings hatte sie ihre wissenschaftlichen Ambitionen mit ihrer Rückkehr ins elterliche Haus nicht aufgegeben, es ging eben nur langsamer voran. Nach wie vor schrieb sie, wann immer sie die Zeit dazu fand, an ihrer Magisterarbeit über Friedrich von Hausen, den großen Minnesänger aus dem 12. Jahrhundert. Dessen berühmtestes Lied »Abschied«, das den Kampf zwischen Herz und Leib zum Thema hatte, hing in einer farbenprächtig ausgemalten Fassung über ihrem Schreibtisch, und so manches Mal, wenn sie lange in ihrem Arbeitszimmer hoch unter dem Dach saß, war ihr, als müsse sie in einem früheren Leben selber eine Burgdame gewesen sein. Sie meinte bisweilen, die ferne, schmachtende Stimme eines Ritters zu hören, der zu ihr emporsang: »Min herze und min lip, diu wellent scheiden, diu mit ein ander wären nu manige zit …«
Zweifellos, sagte sie sich, war das eine bessere Zeit gewesen.
Kein Tannenbaum, beschloss Lena nach langem Grübeln. Genau genommen beschloss es sich von selbst, denn Lena hatte noch nie einen Baum für Weihnachten gekauft; das war immer die Aufgabe ihres Vaters gewesen. Es wäre ihr ungehörig erschienen, sich einer Aufgabe zu bemächtigen, die so sehr eine elterliche, väterliche war.
Immerhin hängte sie, einer Tradition ihrer Mutter folgend, Meisenknödel vor das Fenster ihres Arbeitszimmers; ein Weihnachtsgeschenk an die Vogelwelt. Wenn sie über ihren Büchern saß, war es bisweilen eine schöne Abwechslung, von den mittelalterlichen Sagen und Märchen aufzuschauen und zu beobachten, wie sich die Meisen über den Kloß aus Fett und Körnern hermachten. Kopfüber krallten sie sich daran, schwangen mit ihm herum, während ihre kleinen Köpfe vor jedem Pick schier endlos oft hierhin und dahin ruckten, ob auch von nirgends Gefahr drohte.
Dieses Jahr kamen fast jeden Tag sechs Blaumeisen, und nach einiger Zeit war Lena, als erkenne sie jedes der Tiere wieder. Die blaugelben kleinen Wesen sahen aus wie aus Wolle gemacht, doch so niedlich ihr Treiben auch war, man kam nicht umhin zu bemerken, dass sie untereinander eine strenge, geradezu erbarmungslose Rangordnung einhielten – eine Rangordnung, die dem größten und stärksten Tier stets den Vorrang einräumte. Erst wenn dieses nicht mehr weiterfressen wollte, durften sich die anderen dem Futterbatzen im grünen Netz nähern. Manchmal duldete einer der Vögel einen Artgenossen auf der anderen Seite der Kugel, doch wenn, dann nicht für lange. Und immer war es der Kleinste und Schwächste, der am Schluss an die Reihe kam, wenn kaum noch etwas übrig war.
Und so waren es seit ein paar Tagen nur noch fünf Meisen, die sich um den Knödel sammelten. Lena musste unwillkürlich seufzen, als ihr aufging, was das bedeutete.
Doch so war das nun mal in der Natur. Tiere kannten keine Gnade, kein Erbarmen, kein Mitgefühl. Lieben, sagte sich Lena, war etwas, das nur Menschen konnten. Und auch die konnten es nicht besonders gut.
Aber sie würde der Versuchung widerstehen, sich dieser trostlosen Stimmung zu ergeben. Auch wenn es traurig war, an einem solchen Fest allein zu sein: Andere hatten es auch nicht leicht oder sogar noch schwerer. Die Bergers von nebenan zum Beispiel, deren damals elfjähriger Sohn vor vier Jahren verschwunden war. Lena hatte das Kind gekannt. Nun, was hieß gekannt? Vom Fenster ihres Zimmers aus hatte sie im nachbarlichen Garten einen Knaben spielen sehen, meistens alleine. Im Sommer hatte er nackt in einem blaugelben Planschbecken gesessen, dessen Wasser offenbar nie ausgewechselt wurde,
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