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Das Fest des Ziegenbocks

Das Fest des Ziegenbocks

Titel: Das Fest des Ziegenbocks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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schrill. »Ich weiß ganze Passagen auswendig, wie Gedichte.« Warum dieses Geständnis vor dem Marionettenpräsidenten? Das war eine Schwäche, der er sonst nie erlag. Balaguer konnte sich dessen rühmen, sich wichtig fühlen. Die Situation war
    nicht dazu angetan, sich in so kurzer Zeit eines zweiten Mitarbeiters zu entledigen. Ihn beruhigte der Gedanke, daß dieser kleine Mann sich nicht nur dadurch auszeichnete, daß er das Zweckmäßige wußte, sondern vor allem auch dadurch, daß er das Unzweckmäßige ignorierte. Er würde die Sache nicht weitererzählen, um sich nicht mörderische Feindschaften unter den anderen Höflingen zuzuziehen. Jene Rede Balaguers hatte ihn erschüttert, ihn veranlaßt, sich immer wieder zu fragen, ob sie nicht eine tiefe Wahrheit ausdrückte, eine von diesen un-auslotbaren göttlichen Entscheidungen, die das Schicksal eines Volkes prägen. Als er an jenem Abend die ersten Sätze hörte, die das frischgebackene Akademiemitglied in seinem schlechtsitzenden Cut auf der Bühne des Theaters der Kunstakademie las, widmete der Wohltäter ihnen keine größere Aufmerksamkeit. (Auch er trug einen Cut, wie alle männlichen Anwesenden; die Damen trugen lange Kleider, und überall funkelten Juwelen und Brillanten.) Das Ganze schien eine Zusammenfassung der dominikanischen Geschichte seit der Ankunft von Kolumbus auf der Insel Hispaniola zu sein. Sein Interesse begann wach zu werden, als in den wohlgesetzten Worten und der eleganten Prosa des Vortragenden allmählich eine Vision, eine These Gestalt annahm. Die Dominikanische Republik habe mehr als vier Jahrhunderte lang, genau gesagt vierhundertachtunddreißig Jahre, zahllose Mißgeschicke überlebt – Seeräuber, haitianische Invasionen, Annektionsversuche, Massaker und Flucht der Weißen (bei der Unabhängigkeit von Haiti waren nur noch sechzigtausend übrig) –, was der Vorsehung zu danken sei. Diese Aufgabe habe bislang in den Händen des Schöpfers gelegen. 1930 habe Rafael Leónidas Trujillo Molina Gott in dieser mühseligen Mission abgelöst. »›Ein eiserner, energischer Wille, der die Republik auf ihrem Weg zur vollen Entfaltung ihrer Geschicke begleitet und das beschützende, wohltätige Wirken jener übernatürlichen Kräfte unterstützt‹«, rezitierte Trujillo mit halbgeschlossenen Augen. »›Gott und Trujillo: das ist, auf eine kurze Formel gebracht, die Erklärung zunächst für das Überleben des Landes und dann für
    den gegenwärtigen Wohlstand der dominikanischen Gesellschaft.‹«
    Er öffnete die Augen und seufzte wehmütig. Balaguer hörte ihm verzückt zu, eingeschrumpft vor Dankbarkeit. »Glauben Sie noch immer, daß Gott den Stab an mich weitergegeben hat? Daß er mir die Verantwortung für die Rettung dieses Landes abgetreten hat?« fragte er mit einer undefinierbaren Mischung aus Ironie und innerer Unruhe. »Mehr als damals, Exzellenz«, erwiderte die zarte, klare Stimme. »Trujillo hätte die übermenschliche Aufgabe nicht ohne überirdische Hilfe bewältigen können. Sie sind für dieses Land das Werkzeug des Höchsten Wesens gewesen.«
    »Schade, daß diese dämlichen Bischöfe das nicht wissen«, lächelte Trujillo. »Wenn Ihre Theorie richtig ist, dann hoffe ich, daß Gott sie für ihre Blindheit bestrafen wird.« Balaguer war nicht der erste, der die Göttlichkeit mit seinem Werk in Verbindung brachte. Der Wohltäter erinnerte sich, daß zuvor der Juraprofessor, Anwalt und Politiker Don Jacinto B. Peynado (den er 1938, als es infolge des Massakers an den Haitianern zu internationalen Protesten gegen seine dritte Wiederwahl kam, als Marionettenpräsident eingesetzt hatte) ein großes Leuchtschild über der Tür seines Hauses angebracht hatte: »Gott und Trujillo.« Seither schmückten solche Schilder viele Haushalte der Hauptstadt und des Landesinneren. Nein, nicht der Satz; die Argumente, die das Bündnis rechtfertigten, hatten sich wie eine erdrückende Wahrheit auf Trujillo gelegt. Es war nicht leicht, auf seinen Schultern das Gewicht einer übernatürlichen Hand zu spüren. Die Rede Balaguers wurde jedes Jahr vom Institute Trujilloniano neu aufgelegt und war Pflichtlektüre in den Schulen sowie zentraler Text des Staatsbürgerlichen Breviers, das den Zweck hatte, Schüler und Studenten in der Trujillistischen Lehre zu unterweisen, und von einemTrio seiner Wahl verfaßt worden war: von Balaguer, Cerebrito Cabral und dem Lebenden Dreck. »Ich habe oft an diese Theorie von Ihnen gedacht, Dr. Balaguer«,

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