Das Fest des Ziegenbocks
mit einem ungeduldigen Klopfen, und in der Öffnung erscheint ein verwirrtes Gesicht, das Urania sofort erkennt: ihre Cousine Lucinda.
»Urania? Urania?« Ihre großen, hervorspringenden Augen prüfen sie von oben nach unten und von unten nach oben, sie breitet die Arme aus und geht auf sie zu, als wollte sie herausfinden, ob es sich nicht um eine Halluzination handelt.
»Ich bin es, Lucindita.« Urania umarmt die jüngere der Töchter ihrer Tante Adelina, die Cousine in ihrem Alter, ihre Klassenkameradin.
»Aber… Mädchen! Ich glaube es nicht. Du, hier? Laß dich anschauen! Aber wie ist das denn möglich! Warum hast du mich nicht angerufen? Warum bist du nicht zu uns gekommen? Hast du vergessen, wie gern wir dich haben? Erinnerst du dich nicht mehr an deine Tante Adelina, an Manolita? Und an mich, du Undankbare?« Sie ist so überrascht, so voller Fragen und Neugier – »Mein Gott, wie hast du das ausgehalten, fünfunddreißig Jahre, fünfunddreißig, nicht?, ohne in deine Heimat zu kommen, ohne deine Familie zu sehen«, »Mädchen, du wirst so viel zu erzählen haben« – , daß sie sie gar nicht auf ihre Fragen antworten läßt. Darin hat sie sich nicht sehr verändert. Schon als kleines Mädchen redete sie wie ein Papagei, Lucindita, die begeisterte, die phantasievolle, die verspielte. Die Cousine, mit der sie sich immer am besten verstanden hatte. Urania sieht sie vor sich in ihrer Festtagsuniform, weißer Rock und marineblaue Jacke, und in der Tagesuniform, rosa und blau: ein pummeliger Irrwisch mit Stirnlocke, Zahnspangen und einem Lächeln, das ihr immer auf den Lippen lag. Jetzt ist sie eine reife, beleibte Frau mit straffer Gesichtshaut ohne jedes Zeichen von Lifting, die
ein einfaches geblümtes Kleid trägt. Ihr einziger Schmuck: zwei lange goldene Ohrringe, die funkeln. Plötzlich unterbricht sie ihre zärtliche Belagerung und ihre Fragen an Urania, um zu dem Invaliden zu treten, dem sie einen Kuß auf die Stirn drückt.
»Was für eine schöne Überraschung hat dir deine Tochter da bereitet, Onkel. Das hast du nicht erwartet, daß deine Tochter wiederauferstehen und dich besuchen würde. Was für eine Freude, nicht, Onkel Agustín?« Sie küßt ihn noch einmal auf die Stirn und mit demselben Ungestüm vergißt sie ihn. Sie setzt sich neben Urania, auf die Bettkante. Sie faßt sie am Arm, betrachtet sie, prüft sie, überschüttet sie erneut mit Ausrufen und Fragen: »Wie gut du dich gehalten hast, Mädchen. Wir sind vom gleichen Jahrgang, oder? Und du siehst zehn Jahre jünger aus. Das ist nicht gerecht! Es wird daher kommen, daß du nicht geheiratet und keine Kinder bekommen hast. Nichts ruiniert einen mehr als ein Ehemann und die Sprößlinge. Was für eine Figur, was für eine Haut! Wie ein junges Mädchen, Urania!«
Nach und nach erkennt sie in der Stimme ihrer Cousine die Nuancen und Färbungen, die Musik des Mädchens wieder, mit dem sie in den Höfen der Santo-Domingo-Schule spielte und dem sie so oft Geometrie und Trigonometrie erklären mußte.
»Eine Ewigkeit haben wir uns nicht gesehen, Lucindita, nichts voneinander gehört«, ruft sie schließlich aus. »Deine Schuld, du Undankbare«, sagt ihre Cousine mit liebevollem Tadel, aber in ihren Augen brennt jetzt die Frage, brennen die Fragen, die Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen sich immer wieder gestellt haben mußten in den ersten Jahren nach der plötzlichen Abreise von Uranita Cabral, Ende Mai 1961, in die ferne Ortschaft Adrian, Michigan, zur Siena Heights University der Dominican Nuns, denen auch die Santo-Domingo-Schule in Ciudad Trujillo unterstand. »Ich habe es nie verstanden, Uranita. Du und ich, wir waren so enge Freundinnen, so verbunden, nicht nur Verwandte. Was ist passiert, daß du plötzlich nichts mehr von uns wissen wolltest? Auch nicht von deinem Papa, von deinen Onkeln und Tanten, von Cousins und Cousinen. Nicht einmal von mir. Ich habe dir zwanzig oder dreißig Briefe geschrieben und du nicht eine Zeile. Ich habe dir jahrelang Postkarten, Glückwünsche zum Geburtstag geschickt. Auch Manolita und meine Mama. Was haben wir dir getan? Warum warst du so böse, daß du nie mehr geschrieben und fünfunddreißig Jahre lang deine Heimat nicht mehr betreten hast?« »Jugendtorheiten, Lucindita«, sagt Urania lachend und greift nach ihrer Hand. »Aber du siehst ja, damit ist es vorbei, hier bin ich.«
»Bist du auch wirklich kein Gespenst?« Ihre Cousine beugt sich zurück, um sie anzuschauen, schüttelt ungläubig
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