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Das Fest des Ziegenbocks

Das Fest des Ziegenbocks

Titel: Das Fest des Ziegenbocks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Schock für ihn sein würde. Aber er hat mich nicht einmal erkannt.«
    »Er hat dich sehr wohl erkannt.« Ihre Cousine schlägt die Beine übereinander und holt eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche. »Er kann nicht sprechen, aber er merkt, wer ins Zimmer kommt, und versteht alles. Manolita und ich kommen fast täglich her. Meine Mama kann nicht, seit sie sich die Hüfte gebrochen hat. Wenn wir einen Tag nicht kommen, dann zieht er am nächsten Tag ein Gesicht.«
    Sie schaut Urania in einer Weise an, daß diese denkt: ›Noch mehr Vorwürfe.‹ Tut es dir nicht leid, daß dein Vater seine
    letzten Jahre in dieser Verlassenheit verbringt, in den Händen einer Krankenschwester und nur von zwei Nichten besucht? Ist es nicht deine Aufgabe, an seiner Seite zu sein, ihm Liebe zu geben? Glaubst du, du hast deine Pflicht getan, weil du ihm eine Pension zukommen läßt? All das steht in Lucindas hervorspringenden Augen. Aber sie wagt nicht, es zu sagen. Sie bietet Urania eine Zigarette an und ruft aus, als diese ablehnt:
    »Du rauchst natürlich nicht. Das konnte ich mir denken, wo du in den Vereinigten Staaten lebst. Dort gibt es eine AntiRaucher-Psychose.«
    »Ja, eine wahre Psychose«, räumt Urania ein. »In der Kanzlei haben sie auch das Rauchen verboten. Mir ist das egal, ich habe nie geraucht.«
    »Die perfekte Frau«, sagt Lucindita lachend. »Sag mal, meine Liebe, ganz im Vertrauen, hast du jemals irgendein Laster gehabt? Hast du irgendwann einmal eine von diesen Torheiten begangen, die alle begehen?« »Einige«, lacht Urania. »Aber die kann man nicht erzählen.«
    Während sie sich mit ihrer Cousine unterhält, mustert sie das Wohnzimmer. Die Möbel sind dieselben, das läßt ihre Abgewetztheit erkennen; der Sessel hat einen abgebrochenen Fuß und wird von einem untergelegten Holzkeil abgestützt; der zerschlissene, löchrige Bezug hat die Farbe eingebüßt, die, so erinnert sich Urania, blaßrot war, ein Rot wie der Bodensatz einer Weinflasche. Schlimmer als die Möbel sehen die Wände aus: Feuchtigkeitsflecken überall, und an vielen Stellen erscheint das nackte Mauerwerk. Die Vorhänge sind verschwunden; es ist nur noch die Holzstange da mit den Ringen, an denen sie befestigt waren. »Du wunderst dich, wie schäbig es hier aussieht.« Ihre Cousine stößt einen Mundvoll Rauch aus. »Bei uns ist es genauso, Urania. Trujillos Tod hat die Familie ruiniert, das ist die Wahrheit. Meinen Papa haben sie aus dem Tabakkonsortium hinausgeworfen, er hat nie wieder Arbeit gefunden. Weil er Schwager deines Vaters ist, nur deshalb. Na ja, den Onkel hat es schlimmer getroffen. Sie stellten Ermittlungen über ihn an, erhoben
    alle denkbaren Anklagen, machten ihm Prozesse. Ihm, der bei Trujillo in Ungnade gefallen war. Sie konnten ihm nichts beweisen, aber sein Leben war auch ruiniert. Ein Glück, daß es dir gutgeht und du ihm helfen kannst. In der Familie könnte das niemand. Alle pfeifen wir auf dem letzten Loch. Armer Onkel Agustín! Er war nicht wie so viele andere, die sich anpaßten. Er hat sich aus Anständigkeit ruiniert!« Urania hört ihr ernst zu, ihre Augen ermuntern Lucinda, weiterzusprechen, aber im Geist ist sie in Michigan, in der Siena Heights University, und durchlebt noch einmal jene vier Jahre fanatischen, rettenden Studiums. Die einzigen Briefe, die sie las und beantwortete, waren die von Sister Mary. Sie waren liebevoll, diskret und erwähnten die Sache nie, obwohl Urania, wenn Sister Mary es getan hätte – die einzige Person, der sie sich anvertraut hatte, die Person, der die glänzende Lösung eingefallen war, sie fortzubringen, nach Adrian, und die den Senator Cabral aufgefordert hatte, diese Lösung zu akzeptieren – , sich nicht geärgert hätte. Wäre es eine Erleichterung gewesen, sich ab und zu in einem Brief an Sister Mary über das Phantom auszulassen, das ihr nie Ruhe ließ? Sister Mary erzählte ihr von der Schule, von den großen Ereignissen, von den turbulenten Monaten nach der Ermordung Trujillos, von Ramfis’ Verschwinden und dem der ganzen Familie, von den Regierungswechseln, den Zusammenstößen auf der Straße, den Unruhen, sie interessierte sich für ihr Studium, sie beglückwünschte sie zu ihren akademischen Erfolgen.
    »Wie kommt es eigentlich, daß du nie geheiratet hast, Mädchen?« Lucindita zieht sie mit den Augen aus. »An Angeboten hat es dir bestimmt nicht gefehlt. Du siehst noch immer gut aus. Entschuldige, aber du weißt ja, wir

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