Das Fest des Ziegenbocks
den Kopf. »Warum bist du gekommen, ohne Bescheid zu sagen? Wir hätten dich am Flughafen abgeholt.« »Ich wollte euch überraschen«, lügt Urania. »Ich habe es von einem Augenblick zum anderen beschlossen. Es war ein Impuls. Ich habe ein paar Sachen in den Koffer gepackt und bin ins Flugzeug gestiegen.«
»In der Familie waren wir sicher, daß du nie zurückkommen würdest«, sagt Lucinda, plötzlich ernst. »Auch Onkel Agustín. Er hat viel gelitten, das muß ich dir sagen. Weil du nicht mit ihm sprechen wolltest, weil du nicht ans Telefon gingst. Er war verzweifelt, er hat vor meiner Mutter geweint. Er ist nie darüber hinweggekommen, daß du ihn so behandelt hast. Entschuldige, ich weiß nicht, warum ich dir das sage, ich will mich nicht in dein Leben einmischen. Ich habe eben immer Vertrauen zu dir gehabt. Erzähl mir von dir. Du lebst in New York, nicht wahr? Es geht dir sehr gut, das weiß ich. Wir haben deinen Werdegang verfolgt, du bist eine Legende in der Familie. Du arbeitest in einer sehr bedeutenden Kanzlei, nicht?«
»Na ja, es gibt größere Anwaltsfirmen als unsere.« »Mich wundert es nicht, daß du in den Vereinigten Staaten Erfolg gehabt hast«, sagt Lucinda, und Urania bemerkt einen leicht bitteren Unterton in der Stimme ihrer Cousine. »Das konnte man schon früher kommen sehen, weil du so intelligent, so fleißig warst. Das sagten alle, die Oberin, Sister Heien Claire,
Sister Francis, Sister Susana und vor allem Sister Mary, die dich immer so verhätschelt hat: Uranita Cabral, ein Einstein im Rock.«
Urania bricht in Lachen aus. Nicht so sehr wegen der Worte ihrer Cousine als wegen ihrer Ausdrucksweise: redselig und blumig, mit Mund, Augen, Händen und dem ganzen Körper, mit dieser Fröhlichkeit, dieser Lust der Dominikaner am Sprechen. Etwas, das sie vor fünfunddreißig Jahren entdeckt hatte, durch den Kontrast, als sie nach Adrian, Michigan, an die Siena Heights University der Dominican Nuns kam, wo sie sich, von einem Tag zum anderen, von Menschen umgeben sah, die nur Englisch sprachen.
»Als du weggegangen bist, ohne dich überhaupt von mir zu verabschieden, da bin ich fast vor Kummer gestorben«, sagt ihre Cousine mit einer Spur Sehnsucht nach den vergangenen Zeiten. »Niemand in der Familie hat irgend etwas begriffen. Was ist denn das? Uranita in die Vereinigten Staaten, ohne Auf Wiedersehen zu sagen! Wir haben den Onkel mit Fragen durchlöchert, aber er schien auch keine Ahnung zu haben. ›Die Nonnen haben ihr ein Stipendium gegeben, sie konnte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.‹ Keiner hat ihm das geglaubt.« »So war es, Lucindita.« Urania schaut ihren Vater an, der wieder reglos und aufmerksam verharrt und ihnen zuhört. »Es bot sich die Gelegenheit, in Michigan zu studieren, und ich war nicht dumm und hab sie genutzt.« »Das verstehe ich ja«, lenkt ihre Cousine ein. »Auch daß du dieses Stipendium verdient hast. Aber warum bist du so fluchtartig abgereist? Warum hast du mit deiner Familie, mit deinem Vater, mit deinem Land gebrochen?« »Ich war immer ein bißchen verrückt, Lucindita. Aber ich habe oft an euch gedacht, auch wenn ich euch nicht geschrieben habe. Besonders an dich.« Das war gelogen. Du hast niemanden vermißt, nicht einmal Lucinda, die Cousine und Mitschülerin, die Vertraute und Komplizin der Kinderstreiche. Du wolltest sie genauso vergessen wie Manolita, Tante Adelina und deinen Vater, diese Stadt und dieses Land damals, in den ersten Monaten im fernen Adrian, in dem prächtigen Campus mit sauberen Gärten, mit Begonien, Tulpen, Magnolien, Rosenrabatten und hohen Pinien, deren harziger Duft bis in das kleine Zimmer drang, das du im ersten Jahr mit vier Kommilitoninnen teiltest, darunter Alina, die kleine Schwarze aus Georgia, deine erste Freundin in dieser neuen Welt, die so anders war als die deiner ersten vierzehn Jahre. Wußten die Ordensschwestern in Adrian, warum du dank Sister Mary, der Studiendirektorin der Santo-Domin-go-Schule, »fluchtartig« das Land verlassen hattest? Sie mußten es wissen. Hätte Sister Mary sie nicht über die Vorgänge unterrichtet, hätte man dir nicht in dieser überstürzten Weise das Stipendium gegeben. Die Sisters verhielten sich mit beispielhafter Diskretion, denn in den vier Jahren, die Urania an der Siena Heights University verbrachte, hatte keine von ihnen jemals die geringste Anspielung auf die Geschichte gemacht, die wie ein Riß in deiner Erinnerung war. Im übrigen bereuten sie nicht, so
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